Das Blumenorakel
gegen das Glücksspiel bin? Manche von den Kurgästen sind derart süchtig nach Roulette und Kartenspiel, dass sie sogar den Winter über hierbleiben. Nur um in der Nähe der Spielbank zu sein, das muss man sich einmal vorstellen! Und dann passieren solche Dinge«, sagte Friedrich, als er und Flora einige Zeit später mit einem dicken Bücherstapel in Richtung StephanienstraÃe liefen.
»Der arme Teufel hat wahrscheinlich sein ganzes Hab und Gut verspielt und steht nun mit leeren Taschen da.«
Flora schwieg betroffen. Noch immer saà ihr die Szene vor dem Fenster in den Knochen. Wie der Mann mit seiner Pistole herumgefuchtelt hatte! Hatte er wirklich vorgehabt, sich zu töten?
Nach einer Zeit, die Flora wie eine Ewigkeit vorgekommen war, hatte sich der Unglücksvogel von seinem Kameraden wegführen lassen, die Pistole noch immer fest umklammert.
»Er wird es doch nicht noch einmal versuchen?«
Friedrich zuckte mit den Schultern. »Er wäre nicht der Erste â manch einem erscheint ein Leben als armer Mann im Jenseits verheiÃungsvoller als auf dieser Erde.«
Hätte jemand Flora ein halbes Jahr zuvor erzählt, dass aus ihr einmal eine leidenschaftliche Leserin werden würde, hätte sie laut aufgelacht. In ihrer Familie wurde abends Karten gespielt oder man sang zusammen, vertrieb sich die Zeit mit Handarbeiten oder ging ins Wirtshaus. Lediglich Seraphine traf man häufig mit einem Buch an â meist waren es langweilige Gedichte, mit denen sonst niemand etwas anfangen konnte.
Nun aber verbrachte Flora die langen Stunden im Ladenvoller Begeisterung mit dem dicken Bücherstapel aus der Hofbuchhandlung. Wenn ihr etwas besonders gut gefiel, klappte sie ihr eilig gekauftes Notizbuch auf und schrieb die jeweilige Passage ab. Gedichte, kluge Sätze, ungewöhnliche Blumendeutungen â mit jedem Tag füllten sich so die Seiten ihrer Kladde immer mehr.
Auch die Abende waren dem Lesen vorbehalten. Eigentlich hatte Flora gedacht, Friedrich und sie würden sich dafür in ihrem Zimmer aufs Sofa setzen. Wie gern hätte sie sich dabei in seine Arme gekuschelt! Aber Friedrich meinte, es sei Geldverschwendung, in zwei Zimmern Kerzen brennen zu lassen. Das leuchtete Flora natürlich ein.
Also saÃen alle vier Sonnenscheins fast jeden Abend einträchtig beieinander, ein jeder vertieft in seine Lieblingslektüre: Friedrich bevorzugte Bücher über Archäologie und Ausgrabungen, Kuno und Ernestine die wöchentlich erscheinende Zeitschrift Die Gartenlaube .
Der Fortsetzungsroman, den Kuno so liebte, handelte diesmal von einem Gefangenen, dessen Prozess sich ewig hinzog. Kuno fand dies äuÃerst spannend. Gern erzählte er Friedrich und Flora ausschweifend von der neuesten Entwicklung, lieà dabei jedoch oft wichtige Details aus, sodass Flora nach Wochen immer noch nicht wusste, warum der arme Mann überhaupt eingesperrt worden war.
Dass eines Tages sie es sein würde, die andere Leute mit Auszügen aus ihrer Lektüre langweilen würde â auch das hätte sich Flora bisher nicht vorstellen können.
»Friedrich, wusstest du, dass man schon im antiken Griechenland Blumenschmuck in Räumen verteilte? Die Leute glaubten, im Duft der Blüten die Anwesenheit der Götter zu spüren. Das antike Griechenland â wann war das eigentlich?«
»Ich glaube, damit sind die Jahrhunderte vor der Geburt Christi gemeint«, murmelte Friedrich, ohne von seinem eigenen Buch aufzuschauen.
»Aha«, sagte Flora. Gleich darauf plapperte sie weiter: »Stell dir vor, auch die Ãgypter hatten eine ungewöhnliche Beziehung zu Blumen, bei ihnen waren Blumenbinder hochangesehene Leute. Da stehts!« Sie tippte auf ihre aufgeschlagene Buchseite.
»Jetzt interessierst du dich also auch noch für die alten Ãgypter â¦Â« Ernestine schüttelte fast missbilligend den Kopf, dann deutete sie auf den Kalender an der Wand. »Heute ist Lichtmess â endlich! Von jetzt an werden die Tage merklich länger, bald können wir wieder bei Tageslicht zu Abend essen.«
»âºAn Lichtmess die Magd die Spindel vergess, der Knecht ein Stück Brot mehr essâ¹Â â so ähnlich lautet eine alte Bauernregel, nicht wahr?« Kuno lächelte seine Frau an.
Flora schaute von einem zum anderen. »Euch scheinen meine Erkenntnisse nicht sehr zu interessieren!«
»Ach
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