Das Blut der Azteken
von guten und schlechten Tagen gehört. Die Tage des Aztekenkalenders waren nummeriert und hatten einen Namen. Allerdings kannte ich nur einige der Zeichen, die ich irgendwo gesehen hatte.
Der Zauberer verschwand zwei Stunden lang im Wald. Als er zurückkam, verzehrten wir die Mahlzeit, die ich über dem Lagerfeuer zubereitet hatte. Während er fort gewesen war, hatte ich einer schwangeren Indianerin die Zukunft vorhergesagt. Sie hatte schon zwei Töchter und wünschte sich nun sehnlichst einen Sohn. Nachdem ich die Asche in ihrem Kochfeuer untersucht und einem Schwarm Vögel einige lateinische Brocken zugemurmelt hatte, sagte ich ihr, sie würde tatsächlich einen Jungen zur Welt bringen. Die dankbare Frau schenkte mir eine Ente, die ich für unser Abendessen briet.
Ich wagte es nicht, dem Zauberer zu beichten, dass ich mich als Hellseher versuchte. Während ich mich mit großem Appetit über die Ente hermachte, hörte ich ihm aufmerksam zu.
»Jedem von uns haben die Götter das Schicksal vorherbestimmt«, meinte er ernst. »Bei einigen Menschen weisen die Vorzeichen auf Glück hin, während anderen Schmerz und Unheil drohen.« Er schüttelte den Kopf. »Du gehörst zu den Menschen, deren Schicksal im Dunklen liegt, weil die Götter ihr Werk nicht vollendet haben. Dein Tag ist die Vier, und dein Zeichen ist die Bewegung. Die Götter bestimmen das Schicksal derer, die unter diesem Zeichen geboren sind, nicht vorher, weil Bewegung Veränderung bedeutet. Ihr Gott ist Xolotl, der böse Zwilling der gefiederten Schlange. Zu gewissen Zeiten im Jahr sieht man Xolotl am Nachthimmel glänzen, die dunkle Seite des Sterns, während die helle Seite am Morgen leuchtet.«
Aus der Schilderung schloss ich, dass es sich bei Xolotl um den Abendstern handelte, das nächtliche Erscheinungsbild der Venus, im Gegensatz zum Morgenstern. Xolotl, ein Ungeheuer mit Hundekopf, war als Kostüm bei Maskeraden sehr beliebt.
»Es heißt, dass Menschen, die unter diesem Zeichen geboren sind, häufig ihren Lebensweg ändern und nicht selten Gauner oder Geschichtenerzähler werden.«
Ich spitzte die Ohren.
Der Zauberer teilte mir mit, dass ich unbedingt einen Aztekennamen brauchte.
Ich hörte auf, an meinem Entenknochen herumzunagen, und wischte mir das Fett vom Kinn. »Und welchen Aztekennamen soll ich tragen?«
»Nezahualcóyotl.«
Ich kannte diesen Namen. Neben Montezuma war Nezahualcóyotl der bedeutendste Indiokönig, der Herrscher von Texcoco, um den sich viele Legenden rankten. Er war berühmt für seine Gedichte und seine Weisheit. Doch aus dem schalkhaften Funkeln in den Augen des Zauberers schloss ich, dass er mir diesen Namen nicht wegen meiner Intelligenz oder meiner schriftstellerischen Begabung verleihen wollte.
Er bedeutete nämlich ›Hungriger Kojote‹.
Unterwegs erklärte mir der Zauberer, welche Pflanzen eine heilende Wirkung hatten, und erzählte mir viel über die Wälder und Dschungel sowie über die Menschen und Tiere, die sie bevölkerten.
»Vor dem Eintreffen der Spanier hielten die Aztekenkaiser nicht nur Schlangen und andere Tiere, sondern züchteten in riesigen Gärten Tausende von Pflanzen zur Behandlung von Krankheiten. Die Wirksamkeit einer Pflanze wurde an Tieren und Gefangenen erprobt, die geopfert werden sollten.«
Die großen Gärten und die medizinischen Bücher erlitten dasselbe Schicksal wie fast die gesamte Kultur der Azteken: Sie wurden von den Priestern, die nach den Conquistadores kamen, zerstört. Was hatte Bruder Antonio immer zu dieser Barbarei gesagt? »Was sie nicht verstehen, vernichten sie.«
Im Laufe der nächsten Monate zogen wir von einem kleinen Dorf zum anderen. Da ich nie wieder einem Reiter begegnete, der nach mir suchte ließ die Angst bald nach, und ich hörte auf, meine Nase zum Anschwellen zu bringen. Die Sonne hatte meine Haut stark gebräunt, sodass ich kaum noch Färbemittel brauchte.
Wir hielten uns von größeren Siedlungen fern, während ich lernte, wie ein Indio zu denken und zu handeln.
Die Indios wurden noch mehr als die Spanier von Aberglauben und den Launen ihrer Götter beherrscht. Alles in ihrem Leben, sei es die Sonne über ihren Köpfen, der Boden unter ihren Füßen, die Geburt eines Kindes oder der Weg zum Markt, stand in Zusammenhang mit einer spirituellen Macht. Die meisten Krankheiten wurden von bösen Geistern verursacht, die man einatmete oder berührte. Und wer geheilt werden wollte, musste diese Geister von einem Zauberer mithilfe von Magie und
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