Das Blut der Azteken
Veracruz versorgt hatte, war der Zauberer ein praktisch gebildeter Mensch, auch wenn der Mönch mit seinen Methoden nicht viel hätte anfangen können.
Eine Frau brachte ihm ein kleines Kind, das an Bauchschmerzen litt. Der Zauberer hielt das Kind über einen Wassertrog und betrachtete sein Spiegelbild. Dann verordnete er zerstoßene Avocadokerne und Wegerich, aufgelöst in unvergorenem Agavensaft.
Einen Mann, der heftig hustete, untersuchte er mit seinem Rauchspiegel. Der Mann war abgezehrt und offenbar schwer krank und klagte über Schmerzen in Brust, Unterleib und Rücken. Der Zauberer verschrieb pulque und Honig.
Zu meinem Erstaunen brachte er seine Schlangen nicht zum Einsatz. »Du hast mir erklärt, alle Krankheiten würden durch das Eindringen von bösen Geistern in den Körper verursacht, die die Form von Schlangen annehmen und sich um den Menschen winden. Warum hast du dem Kind und dem Mann heute nicht die Schlangen herausgezogen?«
»Nicht alle Krankheiten lassen sich herausziehen. Der Mann leidet an bösen Geistern aus der Luft, die sich in seinem Körper breit gemacht haben. Die Schlangen sind zu klein und zu viele, um sie herauszuziehen. Sie sind überall in ihm. Er wird bald sterben.«
Ich erschrak. »Wird das Kind auch sterben?«
»Nein, nein, es hat sich nur den Magen verdorben. Es wäre Verschwendung, eine Schlange bei einem Kind anzuwenden, denn es würde nicht verstehen, dass das Böse von ihm genommen worden ist.«
Ich wusste, dass seine Schlangen keine bösen Geister waren, sondern verstaut in einem Korb auf dem Rücken des Esels durch das Land gekarrt wurden. Offenbar wollte er mir erklären, dass es die schlechten Gedanken waren, die er aus den Köpfen der Menschen entfernte. Die Gedanken selbst waren die Krankheiten.
Obwohl ich Bruder Antonio oft bei der Behandlung von Kranken assistiert hatte, war mir die Vorstellung, dass schlechte Gedanken ein Leiden sein könnten, völlig fremd. Dennoch schien es zu wirken. Ein Mensch, dem eine Schlange entfernt wurde, lächelte und war anschließend eindeutig glücklicher als zuvor.
Allmählich begriff ich, was der Zauberer mit seinen Worten gemeint hatte, die Spanier hätten zwar die Körper der Indios erobert, aber nicht ihre Seelen.
30
Als ich am Morgen erwachte, war der Zauberer schon aufgestanden. Ich ging zum Bach, um mich zu waschen, und sah ihn auf einer kleinen Lichtung zwischen den Bäumen stehen. Er war von Vögeln umringt. Einer von ihnen saß auf seiner Schulter und fraß ihm aus der Hand.
Später, auf dem Weg ins nächste Dorf, erzählte er mir, er habe einiges über mich erfahren.
»Du bist einmal gestorben«, sagte er, »und du wirst wieder sterben, bevor du deinen Namen kennst.«
Ich hatte keine Ahnung, was diese Weissagung zu bedeuten hatte, und er weigerte sich, es weiter auszuführen.
Während wir von Dorf zu Dorf zogen, unterwies mich der Zauberer in der Lebensweise der Azteken.
Ein Azteke ehrte seine Familie, seine Sippe, seinen Stamm und seine Götter. Kinder wurden von Geburt an streng zu gutem Benehmen angehalten und lernten, ihren Mitmenschen respektvoll zu begegnen.
Die Nabelschnur eines männlichen Kindes wurde einem Krieger übergeben, der sie auf einem Schlachtfeld vergrub, damit der Junge zu einem starken Kämpfer heranwuchs. Die eines Mädchens vergrub man unter einem Haus, um sicherzugehen, dass es häuslich werden würde.
»Wenn ein Aztekenkind geboren wird«, erklärte der Zauberer, »bittet der Vater einen Hellseher, den Lebensweg des Kindes vorherzusagen. Das Zeichen des Tages, an dem das Kind zur Welt kam, bestimmt sein weiteres Leben. Es gibt gute Zeichen, die Glück, Gesundheit und sogar Wohlstand verheißen, und solche, die Unheil und Krankheit bringen.«
»Wie werden die Lebenswege vorhergesagt?«
»Man muss das Tonalamatl, das Buch des Schicksals, in dem die guten und die schlechten Tage verzeichnet sind, zu Rate ziehen. Die Tages- und Wochenzeichen deiner Geburt und andere Ereignisse, die damit in Zusammenhang stehen, müssen gründlich untersucht werden. Ein gutes Geburtszeichen bedeutet eine glückliche Zukunft… allerdings nur, wenn man im Einklang mit seinem Zeichen lebt. Ein Leben im Bösen verwandelt ein glückliches Geburtszeichen in ein schlechtes.«
Er fragte mich nach dem Tag und der Uhrzeit meiner Geburt. Das konnte ich beantworten, und ich wusste auch, dass der Bruder angedeutet hatte, sie sei mit Unheil verkündenden Ereignissen verknüpft. Außerdem hatte ich auf der Straße
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