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Das Blut der Azteken

Das Blut der Azteken

Titel: Das Blut der Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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das allerheiligste Heiligtum. Sie war schon hier, bevor die Sonnenpyramide erbaut wurde.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern.
    Wir ritzten uns die Arme ein, ließen das Blut ins Feuer tropfen und nahmen dann im Schneidersitz davor Platz. Ein Wind wehte mich an, eine kalte Brise, die mir die Haare zu Berge stehen und mir einen ängstlichen Schauder den Rücken hinunterlaufen ließ. Ich wusste nicht, woher der Wind in die Höhle drang, doch ich hatte noch nie erlebt, dass Luft sich so lebendig anfühlte.
    »Er ist bei uns«, raunte die alte Frau.
    Einer der Zauberer stimmte ein Lied an die Götter an:
    Unser Vater, el sol,
von Flammen umzüngelt;
unsere Mutter, la luna,
in silbriger Nacht.
Kommt zu uns, bringt uns euer Licht.
    Wieder wurde ich von einem Wind, so kalt wie die Unterwelt, umschmeichelt. Ich erschauderte bis in die Fußspitzen.
    »Die Gefiederte Schlange kommt zu uns«, sagte der Zauberer. »Sie ist jetzt hier. Wir haben sie mit unserem Blut gerufen.«
    Die Frau kniete sich hinter mich und legte mir den Umhang eines Aztekenkriegers an, der aus gelben, roten, grünen und blauen Federn bestand. Nachdem sie mir einen Helm aufgesetzt hatte, reichte sie mir ein Schwert aus Hartholz, dessen Obsidianklinge so scharf war, dass man damit ein Haar hätte spalten können.
    Als ich fertig angekleidet war, nickte der Zauberer beifällig. »Deine Ahnen werden keine Achtung vor dir haben, wenn du nicht als Krieger zu ihnen kommst. Ein Azteke wurde von Kindheit an zum Krieger ausgebildet.«
    Er bedeutete mir, mich vor das Feuer zu setzen. Die alte Frau nahm neben mir Platz. Sie hielt ein steinernes Gefäß in der Hand, das eine dunkle Flüssigkeit enthielt.
    Dann richtete sie das Wort an mich, aber ich konnte sie nicht verstehen. Wie mir klar wurde, war die Sprache mit der der Azteken verwandt, aber offenbar handelte es sich um eine, die nur die Priester kannten. Der Zauberer übersetzte.
    »Sie wird dir jetzt einen Trank geben, der dich zu den Göttern bringt.«
    Ich saß am lodernden Feuer und trank die Flüssigkeit, während die Zauberer zu singen begannen.
    Meine Gedanken wurden zu einem dunklen, reißenden Fluss, der bald in Stromschnellen überging und sich schließlich in einen schwarzen Strudel verwandelte, in einen Wirbel aus nächtlichem Feuer. Mein Verstand krümmte und wand sich und verließ meinen Körper. Als ich mich umblickte, raste ich zur finsteren Decke der Höhle hinauf. Unter mir befanden sich das Feuer, die Zauberer und mein eigener, mir vertrauter Körper.
    Eine Eule flog an mir vorbei. Eulen waren Unglücksboten und kündigten mit ihrem nächtlichen Kreischen den Tod an. Ich floh aus der Höhle, um dem Tod zu entrinnen, den die Eule brachte. Draußen war der Tag zur Nacht geworden, ein schwarzes Leichentuch, ohne Mond und Sterne, hüllte die Erde ein.
    Ich hörte die Stimme des Zauberers dicht neben meinem Ohr flüstern, als säße ich noch neben den anderen am Feuer in der Höhle.
    »Deine aztekischen Vorfahren wurden nicht in dieser Mutter aller Höhlen in Teotihuacan geboren, sondern im Norden, dem Land der Winde und Wüsten, wo der Ort der Dunkelheit liegt. Sie nannten sich nicht Azteken, denn dieser Name wurde ihnen erst von den spanischen Eroberern gegeben, sondern Mexicas. Bitterkalte Winde und Sandstürme vertrieben sie aus ihrem Land im Norden, weil kein Regen fiel. Aus Hunger und Verzweiflung zogen sie nach Süden in das Land, das die Götter bevorzugten und immer warm und feucht hielten. Aber im Süden lebten bereits Menschen, die mächtig genug waren, um die Mexicas aufzuhalten und zu vernichten. Diese Menschen waren vom Gott der Sonne und des Regens gesegnet. Sie bauten eine wundersame Stadt namens Tula. Keinen Hort der Götter wie Teotihuacan, sondern eine Stadt der Schönheit und der Freude, voller prächtiger Paläste und Gärten, die denen im östlichen Himmel fast ebenbürtig waren.«
    In Tula hatten unsere aztekischen Vorfahren, wie der Zauberer gesagt hatte, zum ersten Mal ihre Bestimmung erkannt.
    Tula, der Name klang in meinen Ohren wie Magie, als ich den eindringlichen Worten des Zauberers lauschte. Sahagún, ein spanischer Priester, der kurz nach der Eroberung in Neuspanien eintraf, verglich die Legende von Tula mit der von Troja und schrieb: »Diese großartige und berühmte Stadt, in der Wohlstand, Kultur, Weisheit und Macht herrschten, erlitt dasselbe Schicksal wie Troja.«
    »Quetzalcóatl ging von Teotihuacan nach Tula«, fuhr der Zauberer fort. »In Tula

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