Das Blut der Azteken
Ich lauschte in respektvollem Schweigen.
»Und weil wir Indios eins mit dem Land sind, müssen wir die Götter, die uns Krankheit bringen oder uns heilen, ehren und ihnen Tribut zollen. Dein Blut wurde von den Spaniern verwässert. Die Indiogeister schlummern in dir, doch du kannst sie wieder erwecken, damit dein Blut dick wird. Und um sie zu wecken, musst du den Weg deiner indianischen Vorfahren gehen.«
»Wirst du mich die Lebensweise der Azteken lehren?«
»Man kann sie nicht lernen. Es ist möglich, einem Menschen den Weg zu zeigen, doch nur sein Herz wird ihn zur Wahrheit führen. Ich weise dir die richtige Richtung, mein Junge, aber die Reise musst du allein machen. Die Götter werden dich auf die Probe stellen«, kicherte er. »Und manchmal ist diese Prüfung so schwer, dass es einem das Herz aus dem Leibe reißt. Wenn du es überstehst, wird dein Zauber stärker sein als das Feuer, das die Spanier aus ihren Musketen schießen.«
Ich hatte mir nie viele Gedanken über mein indianisches Erbe gemacht, denn in der von Eroberern beherrschten Welt, in der ich lebte, zählte nur, ob man reinblütiger Spanier war - oder eben nicht. Nun stellte ich fest, dass mich die Kultur der Azteken ebenso neugierig machte wie die spanische Literatur oder der Schwertkampf. Ich hatte Neuspanien verlassen und die Welt der alten Azteken betreten. Bruder Antonio hatte mir die spanische Kultur nahe gebracht. Und nun eröffnete mir der alte Zauberer die Möglichkeit, meine indianische Seite kennen zu lernen.
Ich wollte alles über den Zauberer wissen. Woher stammte er? Hatte er eine Familie?
»Ich komme von den Sternen«, antwortete er mir.
28
Am Mittag erreichten wir ein kleines Dorf, in dem der Häuptling den Zauberer begrüßte. Wir setzten uns mit einigen Dorfältesten vor die Hütte des Häuptlings. Die meisten Dorfbewohner arbeiteten auf den Feldern.
Nachdem der Zauberer Geschenke in Form von Tabak verteilt hatte, wurden die Pfeifen angezündet. Man unterhielt sich über die Ernte und über die Einwohner des Dorfes. Falls unser Besuch einem bestimmten Zweck diente, war dieser für mich nicht ersichtlich. Wir hatten auch keine Eile. Das Leben dieser alten Männer verlief in gemächlichen Bahnen.
Niemand erkundigte sich nach mir, und der Zauberer gab auch keine Erklärungen ab. Ich kauerte auf den Fersen, zeichnete zufällige Muster in den Sand und lauschte dem Gespräch. Vieles konnte ich nicht verstehen, denn mein in Veracruz gelerntes Náhuatl reichte hier nicht aus. Zum Glück bin ich ziemlich sprachbegabt, und so vergrößerte ich meinen Wortschatz rasch, indem ich dem Geplauder der alten Männer zuhörte.
Die Dorfältesten tauschten immer noch Neuigkeiten aus, als drei Reiter im Dorf erschienen. Als das Hufgetrappel an mein Ohr drang, wollte ich aufspringen, um zu fliehen, doch ein Blick des Zauberers mahnte mich, die Ruhe zu bewahren. Er hatte Recht: Vor einem Pferd konnte ich nicht davonlaufen.
Einer der Reiter war ein Spanier. Seine Kleidung ähnelte der des Mannes, der mich auf dem Markt verfolgt hatte, weshalb ich ihn für den Aufseher einer Hacienda hielt. Die anderen beiden, ein Indio und ein Afrikaner, saßen auf Mauleseln und waren besser gekleidet als gewöhnliche Indios und Sklaven. Aus ihrem Äußeren schloss ich, dass sie nicht nur einfache Kuhhirten waren, sondern eine gehobene Stellung innehatten und den übrigen Arbeitern Befehle geben durften.
Ich spürte auf Anhieb, dass es sich bei diesen Männern um Häscher handelte, die mir auf den Fersen waren. Anstatt einfach durch das Dorf zu reiten, sahen sie sich argwöhnisch um und verfolgten offenbar ein bestimmtes Ziel.
Als sie an uns vorbeikamen, erhob sich der Häuptling, um sie zu begrüßen. Der berittene Indio erwiderte seinen Gruß und wandte sich dann auf Náhuatl an uns alle.
»Hat jemand von euch einen Mestizenjungen gesehen? Etwa vierzehn oder fünfzehn Jahre alt? Vielleicht ist er in den letzten Tagen hier gewesen.«
Ich musste den Kopf ein wenig heben, um zu dem Indio auf dem Maultier aufzublicken. Wegen der Sonne hatte ich den Hut in die Stirn gezogen, und ich hielt mir schützend die Hand vor Augen, in der Absicht, einen Teil meines Gesichts zu verbergen, damit die Häscher nur meine angeschwollene Nase sahen.
Starr vor Angst lauschte ich, wie die alten Männer erörterten, wer in den vergangenen beiden Tagen durch das Dorf gekommen war. »Hier ist kein Mestize vorbeigekommen«, meinte der Häuptling schließlich.
Die Ältesten
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