Das Blut der Lilie
südlicher Richtung, um die
Markthallen und all die anderen Plätze, wo sich die Massen versammelten, zu
meiden. Aber ich steuerte direkt auf eine Weinschenke zu, und da waren sie â
einige der Randalierer. Ich wollte umkehren, bevor man mich sah, aber es war
schon zu spät. Eine Frau hatte mich entdeckt.
Ah, was für ein hübscher Junge!, schrie sie. Komm her,
du feiner Bengel! Die Prinzessin hätte gern einen Kuss von dir!
Sie hatten den Kopf von der Pike genommen und ihn auf einen
Tisch gestellt. Ein betrunkener Mann zwickte in die blutleeren Wangen. Ein
anderer küsste die schlaffen Lippen. Ein dritter streichelte das Haar. Ich
wollte schreien. Meine Augen bedecken. Wegrennen. Aber ich wagte es nicht. Ich
wusste, sie würden mich verfolgen.
Bist du etwa keine Schauspielerin, sagte ich mir. Los,
spiel.
Pfui Teufel! Ich werde doch keine verdammte
Aristokratin küssen!, schrie ich zurück. Stattdessen kann mir die Prinzessin
einen Kuss geben. Genau hier! Ich drehte mich um und schlug mir auf den Hintern.
Sie kreischten vor Lachen. Einer klopfte mir auf die Schultern. Ein anderer gab
mir Wein. Einer, der wenigen, die nicht betrunken waren und nicht
herumplärrten, fragte mich aus. Wer bist du, Junge? Wo gehst du hin?
Ich sagte ihm, ich sei Diener im Temple und auf dem Heimweg
zu meiner Kammer, um zu schlafen. Er fragte mich, ob ich ein Patriot sei, was
ich bejahte. An meine Jacke war die Trikolre geheftet und auf den Knöpfen
standen die Worte: »Leb in Freiheit oder stirb«. Nachdem er das gesehen hatte,
nannte er mich einen wahren Sohn Frankreichs. Er stellte sich vor â sein Name
war Jean â und bat mich zu bleiben. Ãber eine Stunde lang trank, lachte und
sang ich mit ihnen.
Und dann erklärte Jean, es sei an der Zeit, sich wieder
an die Arbeit für die Nation zu machen. Er rüttelte die anderen auf und
versprach ihnen mehr Wein, aber zuerst müssten sie etwas leisten. Ich wollte
gehen, aber davon wollte er nichts hören.
Ich muss schlafen, sagte ich.
Die Feinde der Revolution schlafen nie, antwortete er.
Also dürfen es auch ihre Verteidiger nicht.
Wohin gehen wir?, fragte ich, als wir uns auf den Weg
machten.
Zurück zu La Force.
Dann wandte er sich ab, um mit einem anderen zu
sprechen, worüber ich froh war, denn ich hielt meine Rolle nicht länger durch.
Eine schreckliche Angst hatte mich gepackt. Ich wusste, wohin es ging: zum
Gefängnis La Force, in dem die Prinzessin von Lamballe eingekerkert gewesen
war. Ich versuchte, mich zurückfallen zu lassen, mich abzusetzen, wurde aber
von der Meute mitgerissen. Als wir uns den Gefängnismauern näherten, hörte ich
die Schreie.
Komm weiter, Junge!, rief Jean und zog mich durch die Tore.
Wir gieÃen den Baum der Freiheit mit dem Blut ihrer Feinde!
Es befanden sich bereits Männer im Hof. Ein riesiges
Freudenfeuer brannte. Daneben waren die Leichen von Männern und Frauen
aufgetürmt. Als ich, vom Schock gelähmt, einfach stehen blieb, rannte eine Frau
an mir vorbei. Ihr Kleid war zerrissen. Drei Männer jagten lachend hinter ihr
her. Sie schrie auf, als einer sie packte. Bitte, schrie sie. Hilfe! Dann traf
sie ein Knüppelschlag am Kopf und sie verstummte.
Jean drückte mir etwas in die Hand. Ich sah es an. Es
war eine Fassdaube, mit Nägeln besetzt. An die Arbeit, Bürger!, rief er.
Ich warf sie weg. Er packte mich am Genick. Befahl mir,
sie aufzuheben. Schlug mir ins Gesicht, als ich mich weigerte. Ich wehrte mich,
schrie und trat mit den FüÃen nach ihm, überzeugt, ich würde als Nächster
getötet, als ich jemanden laut rufen hörte: Jean! Lass ihn los! Er gehört zum
Herzog!
Es war Rotonde, den ich oft in den Gemächern des
Herzogs von Orléans gesehen hatte.
Warum sollte ich? Ich trau ihm nicht, entgegnete Jean.
Er ist kein Patriot. Er ist weich wie ein Weib und ein Verräter.
Ich sag dir, er ist einer von Orléansâ Leuten. Bring
ihn um und du kannst dich vor dem Mann selbst verantworten, erwiderte Rotonde.
Jean spuckte aus. Hau ab, du Mistkerl, knurrte er und
gab mir einen so heftigen StoÃ, dass ich der Länge nach aufs Pflaster fiel. Geh
zurück zu deinem Herrn. Sag ihm, wir erledingen unsere Arbeit.
Wie wahnsinnig vor Angst nahm ich seine letzten Worte
kaum mehr wahr, sondern rappelte mich auf und lief davon. Die StraÃen, durch
die ich rannte, waren dunkel, genau wie die Häuser. Ich klopfte an Türen
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