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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Robespierre
jedoch eingelenkt und verfügt, dass Gott in Paris bleiben könne, aber nur, wenn
er sich wie ein guter Patriot verhielt und sich einen Republikaner nannte.
Heute Nacht wurde ein Festzug zu Ehren der neu erfundenen Gottheit
veranstaltet.
    Ich blickte zu dem Feuerwerk hinauf. Es war
wunderschön. Dergleichen hatte ich seit meinem Weggang aus Versailles nicht
mehr gesehen. Als ich die Feuerwerkskörper am Nachthimmel aufleuchten sah,
hörte ich wieder Louis Charles’ leise, traurige Stimme:
    Â 
    Sie sehen aus wie zerbrochene Sterne.
    Wie Mamans Diamanten.
    Wie die Seelen im Himmel.
    Konnte er das Feuerwerk in seinem Turm hören? Blickte
er durch sein Fenster hinauf, um es zu sehen? Drang das Licht der Raketen in
seine gequälten Augen?
    Sicher, die Welt war schwarz, aber dennoch erstrahlte
das Feuerwerk über allem.
    Ich zog meinen Beutel und die Gitarre durch die Mauer
zurück und begab mich auf den langen Heimweg zu meiner Kammer. Jetzt wusste
ich, was ich zu tun hatte. Und dass ich es nie bis London schaffen würde.
    31. Mai 1795
    Ein Diamantarmband. Die letzten Goldmünzen der Königin.
Das ist praktisch alles, was mir noch geblieben ist.
    Fauvel lässt es durch die Finger gleiten und schüttelt
den Kopf. Ich kann das nicht mehr tun, sagt er. Bitte mich nicht mehr darum.
    Bitte, Fauvel.
    Er nimmt das Armband und begutachtet es.
    Zwanzig deiner besten Raketen. Die schönsten, die du je
gemacht hast. Schön genug, um die Sterne zu beschämen.
    Er antwortet immer noch nicht.
    Bitte, Fauvel.
    Er steckt das Armband und die Münzen ein und küsst mich
auf die Wange. Und ich weiß, was danach kommen wird. Ich weiß es. Aber er kann
jetzt nicht mehr anders. Ebensowenig wie ich.
    Am Ende schließlich habe ich bekommen, was ich wollte –
eine Bühne, auf der ich glänzen kann, ein Publikum, das applaudiert. Denn ganz
Paris sieht mir inzwischen zu. Man redet von nichts anderem. In der
Nationalversammlung, in den Kaffeehäusern, den Wäschereien, Fabriken und
Marktständen, überall spricht man von den Feuerwerken. Die Zeitungen sind voll
von meinen Taten. Kein Schauspieler hat je Vergleichbares geschafft, nicht
einmal der große Talma.
    Aber jetzt gibt es nur noch einen im Publikum, der mir
wichtig ist. Nur einen einzigen Zuschauer.
    Seinetwegen streife ich nachts durch die Straßen.
Seinetwegen klettere ich auf steile Hausdächer. Seinetwegen renne ich davon,
immer nur einen Schritt den Wachen voraus. Seinetwegen strample ich mich ab und
verstecke mich, verbinde meine verbrannten Hände, schlafe bei den Toten.
    Ich weiß, dass es nicht so bleiben kann. Dass meine
Zeit bald kommt. Mein Schatz schmilzt dahin. Bonaparte tobt. Fauvel rennt zu
den Wachen.
    Aber ich mache dennoch weiter mit meinen Raketen.
    Denn, ach, wie schmerzt mich der Gedanke, dass der
Herzog von Orléans recht gehabt haben könnte.
    Wie schmerzt mich der Gedanke, dass die Welt immer
gewinnt.
    Â Â 58  
    Ich blättere um. Es gibt noch einen Eintrag. Nur noch einen
    einzigen. Den letzten. Er datiert auf den 1. Juni 1795.
    Und er ist mit Blut beschmiert.
    Â»Nein«, sage ich und klappe das Tagebuch zu. »Nein.«
    Wie dumm war doch meine Hoffnung. Der hässliche Fleck ist
Blut. Alex’ Blut. Etwas Schreckliches ist passiert. Die Wachen haben sie
erwischt. Sie wurde in die Enge getrieben oder verwundet, überlebte aber noch
lang genug, um den letzten Eintrag niederzuschreiben. Was steht darin? Dass sie
unter Qualen gestorben ist? Allein? Dass sie völlig umsonst gestorben ist?
    Während ich den Fleck betrachte, stelle ich fest, dass das
Tagebuch zittert. Nein, es ist nicht das Tagebuch, sondern es sind meine Hände.
Mein ganzer Körper. Die Tabletten, die ich beim Aufstehen genommen habe, wirken
nicht. Ich greife nach dem Fläschchen und nehme noch eine, dann gehe ich auf
und ab und warte, dass die Wirkung einsetzt.
    Zehn Minuten später fühle ich mich noch schlechter. Die
Pillen wirken nicht mehr. Ich blicke auf meine Hände. Sie zittern immer noch.
In meinem Kopf ist ein Dröhnen, ein dumpfes Grollen. Wie ein Erdbeben. Der
Schmerz ist seismisch. Er wird mich schütteln, bis ich zerspringe und in Stücke
breche. Ich muss mich bewegen. Irgendwohin gehen. Egal wohin. Ich muss zusehen,
dass ich dem Schmerz einen Schritt voraus bin.
    Während ich im Flur stehe und überlege, wohin ich gehen soll,
höre ich Schritte und

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