Das Blut der Lilie
Stimmen auf dem Treppenabsatz und dann einen Schlüssel in
der Tür. Es sind Dad und G.
»Hallo«, sage ich und bemühe mich, normal zu klingen.
»Hallo«, antwortet Dad.
»Hallo, Andi«, sagt G.
G. sieht schrecklich aus â müde, zerknittert und
übernächtigt. Ein seltsamer Typ ist hinter ihm. Er trägt einen dunklen Anzug,
einen Knopf im Ohr und eine Sonnenbrille. Er ist riesengroÃ. Unter seiner Anzugsjacke
zeichnen sich zwei aufgeblähte Bizepse ab. Er nickt mir zu. Ohne zu lächeln.
Dad wirft ein paar Ordner auf den Tisch im Gang und lässt seine Aktentasche
fallen. Dann zieht er seinen Pullover aus und lässt ihn ebenfalls einfach
fallen.
»Ãhm, Dad? Wer ist â¦Â«
»Das ist Betrand. Vom französischen Geheimdienst«, antwortet
er und reiÃt die Tür des Wandschranks auf.
»Vom Geheimdienst? Ich verstehe nicht. Was ist los?«
Er nimmt einen blauen Blazer aus dem Schrank und zieht ihn
über. »Wir haben heute Morgen die Untersuchungen des Herzens abgeschlossen«,
sagt er. »Und dann hat irgendjemand die verdammten Daten durchsickern lassen.
In einer Stunde steht alles im Internet. Alles ist im Eimer.«
»Der Präsident wünscht eine Unterredung«, fügt G. hinzu.
»Sofort. Er hat keine Lust, die Informationen über CNN zu erfahren. Sein Büro hat uns einen Wagen geschickt. Wenn wir das hinter uns
haben, müssen wir die Pressekonferenz in Saint-Denis abhalten. Der Mémorial
reiÃt sich sämtliche Beine aus, um alles auf die Reihe zu kriegen.«
»Warte mal ⦠wie bist du überhaupt hergekommen, G.?«, frage
ich ihn. »Die Flughäfen sich doch geschlossen.«
»Mit dem Auto.«
»Den ganzen Weg von Deutschland?«, frage ich ungläubig.
»Ich bin gestern früh losgefahren. Mit dem Zug gingâs nicht,
also hab ich mir einen Mietwagen genommen.«
»Andi, hast du irgendwo meine gelbe Krawatte gesehen?«, fragt
Dad.
»Sie ist hier«, antworte ich und ziehe sie von Sofalehne. Er
nimmt sie und klappt seinen Kragen hoch. G. rennt in sein Schlafzimmer, taucht
eine Minute später wieder auf, inzwischen auch im Jackett, und fummelt
ebenfalls an einer Krawatte herum.
Während ich zusehe, wie sie durch die Wohnung hasten,
versuche ich, den Mut aufzubringen, sie zu fragen, was ich unbedingt wissen
muss.
»Dad?«
»Uhm?«, antwortet er und bindet seinen Krawattenknoten.
»Ist es sein Herz?«
»Ja«, sagt er.
Nein, denke ich. Bitte nicht.
»Bist du sicher?«, frage ich.
Dad kriegt den Knoten nicht hin, flucht und beginnt wieder
von vorn. »Wir â die beiden anderen Genetiker und ich â haben uns die Proben
der mitochondrialen DNA angesehen ⦠du weiÃt, was
die mt DNA ist, oder?«, fragt er. »Sie wird nur von
der Mutter vererbt und unverändert in mütterlicher Linie weitergegeben, sie ist
einfacher zu verfolgen als die DNA beider
Elternteile.«
»Ja, das weià ich«, erwidere ich ungeduldig.
»Also haben wir die mt DNA des
Herzens mit der mt DNA einiger noch lebender
Verwandten Marie Antoinettes verglichen, und sie stimmten exakt überein.
AuÃerdem haben wir bestimmte Werte des Herzens mit den D-Loop-Sequenzen der mt DNA einer Haarlocke Marie Antoinettes und mit Haarproben
zweier ihrer Schwestern verglichen. Wir haben zwei hypervariable Regionen der D -Loop-Sequenzen â HVR 1
und HVR 2 â geprüft und Ãbereinstimmung für HVR 1 in allen drei Proben gefunden.«
»Was heiÃtdas?«
»Das heiÃt, dass das Herz einem Kind gehörte, das in
mütterlicher Linie mit den Habsburgern verwandt ist â also mit Marie
Antoinettes Familie.«
»Das ist also deine Meinung?«
»Das ist eine wissenschaftliche Tatsache.«
»Aber Marie Antoinette hatte mehrere Kinder. Woher weiÃt du,
dass es nicht von einem der anderen stammt?«
G. antwortet mir: »Weil das Herz zu groà ist, um von
Sophie-Béatrix zu stammen, die kurz nach ihrem ersten Geburtstag gestorben
ist«, sagt er. »Und es ist zu klein, um Marie-Thérèse gehört zu haben, die
schlieÃlich aus dem Gefängnis freigelassen wurde und im Erwachsenenalter
verstarb.«
»Was ist mit Louis-Joseph? Mit Louis Charlesâ älterem Bruder?
Er ist doch auch als Kind gestorben«, erwidere ich.
»Ja, das stimmt. Aber er starb vor der Revolution und bekam
eine königliche Beerdigung. Und
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