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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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tragedy. Release is peace.
    Er spielt hinreißend und Jubel bricht aus, nachdem er geendet
hat. Er nickt und legt die Gitarre weg. Als der Beifall nachlässt, sieht er
mich wieder an.
    Â»Du hast nicht ›optimal‹ gesagt«, meint er.
    Â»Tut mir leid. Das war es aber. Du hast wirklich toll
gespielt.«
    Â»Du weißt, was ich meine. Als ich sagte, ich hätte dein Leben
gerettet und du würdest mir was schulden, hast du zwei Mal gesagt und nicht optimal.«
    Ich erwidere nichts darauf.
    Â»Was wolltest du auf dem Eiffelturm?«
    Ich möchte lügen. Doch als ich in seine Augen blicke, kann
ich es nicht.
    Â»Ich wusstees«, sagt er leise und bestimmt. »Zum Teufel.
Verdammt. Warum?«
    Â»Ich möchte nicht darüber reden«, erwidere ich sauer. Aber
ich bin nicht sauer. Ich habe Angst. Höllische Angst.
    Â»Schade. Ich habe gesagt, du schuldest mir was, und das habe
ich auch so gemeint. Du schuldest mir eine Erklärung.«
    Ich habe den Wein nicht angerührt, den mir jemand
eingeschenkt hat. Jetzt greife ich danach und stürze ihn hinunter.
    Â»Du solltest darüber reden. Du musst darüber reden. Was immer
es auch ist, es bringt dich um. Wirklich.«
    Â»Ich habe darüber geredet. Mit der Polizei. Und mit meinen
Eltern. Mehr Gerede brauche ich nicht.«
    Â»Du hast es mir nicht erzählt.«
    Â»Warte, sag’s mir noch mal … wer zum Teufel bist du?«
    Er schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Jetzt wird er
gehen. Bestimmt. Aber ist das nicht genau das, was ich will? Doch er geht
nicht. Er nimmt meine Hand und hält sie schweigend fest. Wir sitzen einfach da.
Zusammen. Es fühlt sich dämlich an und ist irgendwie peinlich, und ich weiß
nicht, warum er das tut, bis ich es plötzlich begreife. Er wartet darauf, dass
ich es ihm erzähle, und wird nicht locker lassen, bis ich es tue.
    Wieder frage ich mich, wie ich es ihm je erzählen soll. Es
geht nicht. Ich kann es einfach nicht.
    Er rührt sich nicht. Sagt nichts. Seine Hand fühlt sich stark
und verlässlich an. Wie eine letzte Chance.
    Â»Mein Bruder ist gestorben«, sage ich plötzlich mit
zitternder Stimme. »Er wurde umgebracht. Vor zwei Jahren. Es war alles meine
Schuld.«
    Â Â 65  
    Â»Mein Bruder hieß Truman und war auf dem Weg in die Schule.
Er ging an dieser schäbigen Sozialunterkunft vorbei, einem ehemaligen Hotel
namens St. Charles .
In dem Haus sollten neue Eigentumswohnungen entstehen, aber es lebten immer
noch Mieter darin. Arme Familien, alte Leute und ein Typ namens Max. Er war
dürr und hatte schlechte Zähne, trug ausgebeulte Anzüge mit Fliege und saß
immer in einem alten Liegestuhl vor dem Gebäude.
    Truman und ich gingen in dieselbe Schule. Eigentlich sollte
ich ihn jeden Morgen hin begleiten. An unserem ersten Schultag in diesem Jahr,
tauchte Max auf. Er war gerade von der Stadt im Charles untergebracht worden.
Er sah uns, stürzte auf uns zu und versperrte uns den Weg. ›Maximilien R.
Peters. Unbestechlich, unvermeidlich und unbezwingbar!‹, brüllte er. ›Höchste
Zeit für die Revolution!‹ Ich nahm Trumans Hand und zog ihn weiter. ›Keine Lust
zu quatschen? Was ist los? Ihr glaubt wohl, ihr seid Könige in euren
Sandsteinschlössern?‹, schrie er.
    Truman hatte Angst vor ihm, aber er ließ sich nicht einschüchtern.
›Hören Sie auf zu schreien. Wenn jeder schreit, kann man keinen verstehen‹,
sagte er. Max blieb wie angewurzelt stehen. Dann stellte Truman sich vor. Er
streckte die Hand aus, und Max schlug ein. Dann knurrte er Truman an. Er
schnitt eine Grimasse und knurrte wie ein Hund. Truman zuckte zusammen, wich
aber nicht zurück. Max brach in Lachen aus. Von dem Tag an nannte er Truman
Prinz Eisenherz.
    Wir sahen Max fast täglich. Gewöhnlich schrie er herum, dass
er bald die Revolution starten, die Reichen töten und die Stadt dem Volk
zurückgeben würde. Er hielt Schimpftiraden auf den Bürgermeister, die
Wohnungsbehörde und Donald Trump. Jemand behauptete, er sei früher Anwalt,
Strafverteidiger, gewesen. Alle sagten, er sei harmlos und wäre ohnehin bald
wieder fort. Die Stadt würde die Bewohner des Charles umsiedeln, damit die
Bauarbeiten beginnen könnten.
    Aber Max war nicht harmlos. Er war schizophren. An dem Tag,
als die Polizei kam, um die Zwangsräumung durchzuführen, drehte er komplett
durch. Es war im

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