Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
Dezember. Wir waren auf dem Weg zur Schule. Ich sollte Truman
die ganze Strecke begleiten, traf aber zufällig diesen Jungen, den ich mochte.
Sein Name war Nick. Er sagte, er wolle eine Band gründen und ich sollte
mitmachen. Er rauchte einen Joint. Er sagte, er hätte ein paar Pillen
eingeworfen und noch mehr davon zu Hause. Er wollte, dass ich mit zu ihm kam.
Ich willigte ein und sagte Truman, er sollte allein weitergehen. Es waren nur
noch ein paar Blocks bis zur Schule, und er kannte den Weg. Truman mochte Nick
nicht, das wusste ich. Er traute ihm nicht. Und das ärgerte mich, denn
eigentlich traute ich ihm auch nicht. ›Andi, komm mit‹, sagte er. ›Jetzt geh,
Tru‹, antwortete ich. ›Ich pass auf, während du die Henry runtergehst. Dir
passiert nichts.‹ Er winkte zum Abschied. Und ich winkte zurück. Ich … ich
winkte meinem Bruder zum Abschied. Ich …«
    Ich muss innehalten und vergrabe den Kopf in den Armen.
Virgil sagt nichts. Er wartet einfach, bis ich wieder sprechen kann. Nach ein
paar Minuten hebe ich den Kopf, wische mir übers Gesicht und fahre fort.
    Â»Wir beschlossen, an diesem Morgen alle Schulstunden
ausfallen zu lassen, Nick und ich.
    Kurz nachdem wir von der Henry Street in seine Straße
eingebogen – in die Pineapple Street –, sagte er, er sei hungrig. Gleich an der
Ecke ist ein kleiner Imbissladen. Er ging hinein und ich wartete draußen auf
ihn. Danach hat er nie mehr angerufen. Kein einziges Mal während des ganzen
Monats, den ich nicht in die Schule kam. Das nächste Mal habe ich ihn auf der
Promenade gesehen. Er saß auf einer Bank mit einem Mädchen auf dem Schoß. Er
erinnerte sich an nichts. An rein gar nichts. Er umarmte mich, sagte, er habe
gehört, was passiert sei, und wie leid es ihm tue. Er war die ganze Zeit über
total zugedröhnt.
    Ich habe hinterher den Polizeibericht gelesen. Darin hieß es,
Truman sei am Charles vorbeigegangen. Er habe die Polizei gesehen. Musste sie
gesehen haben. Es waren eine Menge Beamte. Er war nicht klug genug, die
Straßenseite zu wechseln. Sich zu entfernen. Die Polizisten schafften gerade
die Mieter, die nicht gehen wollten, gewaltsam aus dem Haus. Laut
Polizeibericht kam es zu Tumulten. Eine alte Dame weinte. Ihre ganzen Sachen
befanden sich in zwei Einkaufstüten. Sie sagte, sie habe zwanzig Jahre in
diesem Haus gelebt und wolle nicht weg. Eine Mutter schrie auf Spanisch, sie
würde nicht mit fünf Kindern in ein städtisches Obdachlosenasyl ziehen. Auch
Max schrie. Er stand auf dem Gehsteig und stritt sich mit den Polizisten herum.
    In dem Moment ging eine Frau vorbei. Sie trug einen Pelzmantel,
viel Schmuck und aß einen Muffin. Da brannten bei Max alle Sicherungen durch.
›Fresst ihr immer noch Kuchen?‹, schrie er sie an. Sie bekam Angst und ließ
ihren Muffin fallen. Er hob ihn auf und bewarf sie damit. ›Wir haben keinen
Kuchen! Kein Brot. Rein gar nichts. Kapierst du das? Wir haben bloß Ratten,
Ungeziefer und kaltes Wasser. Wollt ihr uns das auch noch nehmen?‹
    Ein Polizist packte ihn und sagte ihm, jetzt sei Schluss. In
dem Moment ging Truman vorbei. Gerade als die Polizei Max befahl, seine Sachen
zu holen. Aber Max ging nicht. Er brüllte. Schubste einen der Beamten. Der
versuchte, ihn festzunehmen, und daraufhin rastete Max völlig aus.
    Er griff sich Truman, zog ein Messer aus der Tasche und hielt
es ihm an den Hals. Er zerrte meinen Bruder den Gehsteig entlang und schrie die
Polizisten an, Platz zu machen. Das taten sie und Max stellte Forderungen.
Manche waren halbwegs rational – wie die Zwangsräumung abzubrechen. Manche
nicht – wie Manhattan den Indianern zurückzugeben. Sie versuchten, Max zu
beruhigen. Sie baten ihn, Truman freizulassen. Max lehnte ab. Er sagte, er
werde den Prinzen mitnehmen. Er werde ihn unterrichten. Denn einer müsse
lernen, wie man die Welt gut regiert.
    Ich stand immer noch vor dem Laden und hörte die Sirenen. Ich
ging zur Henry Street zurück, um nachzusehen, was los war. Ich sah meinen
Bruder in Max’ Armen, begann zu schreien und auf ihn zuzulaufen. Truman weinte.
Als er mich sah, versuchte er, sich loszureißen. Er kämpfte mit Max und das
Messer in Max’ Hand verletzte ihn. Nicht schlimm, aber doch so, dass er
blutete. Ein junger Polizist drehte durch. Er zog seine Waffe. Das sah Max. Er
geriet in Panik und sprang mit Truman auf die Straße. Der

Weitere Kostenlose Bücher