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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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pechschwarze Nacht
herrscht. Das einzige Licht kommt von den Taschenlampen der Polizisten. Es
verschwimmt, wenn ich darauf schaue, scheint zu summen und zu pulsieren. Da
fällt mir ein, dass ich selbst eine Taschenlampe habe. Ich ziehe sie aus meiner
Tasche und schalte sie ein. Jetzt kann ich sehen. Ich sehe einen Polizisten.
Und er sieht mich. Kommt auf mich zu.
    Ich habe wirklich keine Lust, meinen Vater aus einem Pariser
Polizeirevier anrufen zu müssen. Vor allem nicht in meinem jetzigen Zustand.
Also renne ich auf den Tunnel zu. Den Eingang kann ich im Strahl der
Taschenlampe erkennen. Doch ich schwanke sehr stark und schaffe es nur mit
größter Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Der Tunnel gabelt sich. Ich laufe
nach links. Noch immer höre ich die Polizei hinter mir. Noch einmal biege ich
nach links ab und renne weiter, so schnell ich kann. Ich stolpere. Falle fast
hin. Nach ein paar Sekunden sehe ich vor mir etwas aufleuchten, das wie ein
weißes Hemd aussieht. Es sind die Grufties, denke ich. Hoffentlich.
    Ich rufe nach ihnen und renne schneller. Da bleibt mein Fuß
an etwas hängen und ich wirble durch die Luft. Schlage hart auf. Ich liege am
Boden. Mein Kopf brummt. Etwas Warmes und Nasses läuft mir über die Wange. Mir
ist so schwindlig, dass ich zu sterben glaube. Ich schließe die Augen und
versuche verzweifelt, das Kreiseln in meinem Kopf zu stoppen, dann mache ich
sie wieder auf. Nie habe ich solche Dunkelheit gesehen. Oder solche Stille
gehört. Es gibt keine Stimmen, keine Lichter mehr.
    Eine Sekunde lang frage ich mich, ob ich schlafe, ohnmächtig
oder tot bin.
    Aber das kann nicht sein, denn sonst würde mein Kopf nicht so
wehtun. Doch ich bin allein. Tief unten, unterhalb von Paris, in den
Katakomben. In der Dunkelheit. Umgeben von Millionen Toten. Und habe keine
Ahnung, wie ich hier wieder rauskommen soll.
    Ich rapple mich auf die Knie und taste nach meiner
Taschenlampe. Meine Hände streichen über Schmutz und Knochen, und ich
schluchzte fast auf vor Glück, als ich sie finde. Sie ist ausgegangen, aber ich
schüttle sie, und sie geht wieder an. Dann nehme ich meinen Gitarrenkoffer und
folge den Grufties. Ich muss sie finden. Sie sind meine einzige Chance, hier
rauszukommen. Inständig hoffe ich, dass es keine weiteren Abzweigungen in dem
Tunnel gibt. Dass ich nicht falsch abbiege. Wie durch ein Wunder entdecke ich
sie nach ein paar Minuten. Sie sind vor mir. Bewegen sich langsam.
    Â»Hallo«, rufe ich auf Französisch. »Wartet!«
    Sie bleiben stehen, und nachdem ich sie eingeholt habe, wird
mir klar, warum sie so langsam gehen. Sie haben keine Taschenlampe. Sondern
eine Kerze.
    Â»Es reicht«, sage ich und gebe dem irren Typen die
Taschenlampe. »Bring uns hier raus.«
    Aber er rührt sich nicht und spielt stattdessen mit der Lampe
herum. Er leuchtet an die Decke, über die Wände und in sein Gesicht. Sein
Freund nimmt sie, dreht sie herum, schüttelt sie, schaltet sie aus Versehen aus
und bittet mich, sie wieder »anzuzünden«.
    Sie sind high. Müssen sie sein. Was wirklich prima ist. Echt
klasse. Ich bin mit einem Haufen Kiffer auf einem Abenteuertrip in den
Katakomben von Paris. Ich knipse die Taschenlampe wieder an und reiche sie dem
irren Typen. Als wir aus der Richtung, aus der wir gekommen sind, Rufe hören,
setzen wir uns in Bewegung. Schneller diesmal. Nach ein paar Minuten wird der
Tunnel schmaler. Wir stapfen durch kaltes, schwarzes Wasser, dann steigt das
Terrain an, und wir sind wieder im Trockenen.
    Und plötzlich breitet sich ein Gestank aus – ein Gestank, wie
ich ihn noch nie gerochen habe. Grauenvoll. So grässlich, dass er mich fast
erschlägt. Ich lasse meine Gitarre und meine Tasche fallen, bücke mich und
übergebe mich. Mir ist so wahnsinnig schlecht, dass es mir nicht einmal
peinlich ist. Als nichts mehr in mir drin ist, richte ich mich auf, huste,
spucke und ringe nach Luft. Mein Hals fühlt sich an, als hätte mir jemand Säure
hinuntergegossen. Tränen strömen mir übers Gesicht. Ich sehe die anderen an.
Ihnen scheint es gut zu gehen. Ganz ausgezeichnet. Verwundert blicken sie mich
an. Als könnten sie nicht verstehen, warum mir so schlecht ist.
    Â»Ihr wollt mich wohl verarschen?«, stoße ich heiser hervor.
»Riecht ihr das nicht?«
    Â»Doch«, antwortet einer.
    Â»Und was stinkt hier so entsetzlich?«
    Â»Die Toten natürlich. Wir sind in

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