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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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das Rollenspiel
aufgeben und mir sagen, wo die nächste Métro-Station ist?«, frage ich.
    Er sieht mich besorgt an. »Ich finde, Sie sollten etwas
essen. Ich fürchte, der Sturz hat Ihre Sinne verwirrt«, erwidert er. »Kommen
Sie, das Café Chartres ist nicht weit. Ich kenne den Küchenchef dort. Er kocht
uns etwas Gutes.«
    Â»Danke, wirklich, aber ich bin nicht hungrig und muss nach
Hause.«
    Â»Lassen Sie mich wenigstens einen Teil des Weges mit Ihnen
gehen.«
    Â»Sicher. Warum nicht.«
    Â»Warten Sie«, sagt er. Bevor ich ihn abhalten kann, greift er
nach meinem roten Band und dem Schlüssel und steckt beides unter mein Hemd. Er
selbst nimmt sein rotes Band ab und wischt sich dann mit einem Taschentuch den
Puder und das Rouge vom Gesicht. »Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.«
    Wir gehen nach Osten. Ich bin froh, aus den Katakomben heraus
zu sein. Froh, dass diese Nacht fast vorbei ist. Ich möchte aus der Glasglocke
heraus. Vor allem möchte ich Virgil wiederfinden.
    Â»Ich heiße übrigens Andi«, sage ich.
    Â»Freut mich«, antwortet er mit einer leichten Verbeugung.
Mein Name ist Amadé.«
    Â»Amadé«, wiederhole ich. »Merkwürdig. Ich beschäftige mich
gerade mit einem Amadé. Er ist auch Musiker, aber aus dem achtzehnten
Jahrhundert, und er …«
    In diesem Moment biegen wir von der Seitenstraße, die wir
hinuntergangen sind, auf die Rue de Rivoli, und ich kann meinen Satz nicht
beenden. Denn in diesem Moment wird alles wirklich sehr sonderbar.
    Â Â 68  
    Die Männer tragen das Haar zum Pferdeschwanz gebunden.
Ausnahmslos alle. Sie haben kurze Hosen und lange, eng anliegende Jacken an.
Die Frauen, die wenigen, die ich ausmachen kann, sehen ziemlich ramponiert aus,
und ich frage mich, ob ich erneut in eine nächtliche Rave-Veranstaltung geraten
bin. Eine Frau kommt auf uns zu. Sie trägt ein langes, altmodisches Kleid. Es
ist schmutzig. Sie ist schmutzig. Sie lächelt uns an und öffnet dann das
Oberteil ihres Kleids.
    Â»Huch! Pack sie wieder ein!«, sage ich. Brüste machen mir
normalerweise keine Angst, aber ich bin immer noch ein bisschen schreckhaft
nach meinem Gang durch die Totenstadt.
    Amadé schiebt sie einfach beiseite, als würde ihm so etwas
ständig passieren. Er geht schnell. Ich muss mich beeilen, um mit ihm Schritt
zu halten.
    Ich sehe Kutschen vorbeifahren, die aussehen, als hätte eine
Zauberfee sie gemacht. Es gibt keinen Randstein, keinen Gehsteig. Nur die
Straße, und die ist schlammig. Wie kann sie nur so schlammig sein? Es gibt
keinen Schlamm in Paris, weil es in Paris keinen Schmutz gibt. Es ist eine
Großstadt. Die Straßen sind asphaltiert. Wenn sie es nicht wären, würden die
Autos stecken bleiben. Aber es gibt auch keine Autos hier. Keine Taxis. Keine
Busse. Keine Mopeds. Keine Verkehrsschilder, keine Ampeln. Es gibt ein paar
Straßenlaternen, aber in denen brennen Flammen. Die Gebäude wirken niedriger.
Am Himmel sind keine Flugzeuge. Und es stinkt. Fast so schlimm wie in den
Katakomben. Nach altem Käse, Schweißfüßen, verfaultem Kohl und Kanalisation.
    Das hier ist kein Rave. Es gibt keine Musik. Es ist auch
nicht Halloween, weil wir nicht Oktober haben. Und es ist auch kein Kostümfest,
weil es keinen Typen im Gorilla-Anzug gibt. Also, was zum Teufel geht hier vor?
    Â»Kommen Sie«, sagt Amadé und zieht mich am Arm.
    Â»Warum hast du’s denn so eilig?«, frage ich ihn.
    Â»Es ist nicht gut, gesehen zu werden. Ihnen über den Weg zu
laufen.«
    Und dann kapier ich’s. Es ist so offensichtlich, dass ich
lachen muss, weil ich so vernagelt und so begriffstutzig war. Das Ganze ist ein
riesiges Filmset. Sie drehen eine Nachtszene von irgendeinem Historienschinken,
die Statisten rennen herum, und Amadé weiß, dass man uns anbrüllen wird, wenn
wir die Aufnahmen vermasseln.
    Und die Toten waren Requisiten. Deshalb haben sich Amadé und
seine Freunde darüber nicht aufgeregt. Und der Gestank? Vermutlich irgendein
ein Spray, damit sich die Schauspieler besser in ihre Rolle einfinden können.
    Ich beginne mich nach den riesigen Scheinwerfern umzusehen,
die man beim Drehen von Nachtszenen benutzt. Nach den dicken Kabelsträngen und
Generatoren und den bulligen Technikern, die sie bedienen. Ich suche die
Wohnwagen, wo sich die Stars zwischen den einzelnen Takes aufhalten. Und die
Tische mit dem Essen, falls

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