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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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den Katakomben.«
    Â»Ja, aber …«, wende ich ein.
    Und dann sehe ich sie. Ich Schein der Taschenlampe sehe ich
die Leichen. Ganze Stapel. Manche sind verschrumpelt. Manche verwest. Die
meisten haben noch ihre Kleider an. Aber keine hat einen Kopf.
    Â»Nein. Das gibt’s nicht. Das gibt es nicht! Das kann nicht sein.
FrischeTote?«,
rufe ich. »Ich hab die Tour mitgemacht. Niemand hat irgendwas von frischen
Toten gesagt. Es hieß, die Leichen seien zweihundert Jahre alt. Das ist
schrecklich. Furchtbar. Wir müssen jemanden rufen. Die Presse. Das Fernsehen.«
    Die vier schauen einander an, als wäre ich wahnsinnig
geworden. Als wäre ich tatsächlich verrückt!
    Daraufhin raste ich aus. Werde ziemlich schrill. Der irre Typ
beruhigt mich. »Seien Sie still. Die Wachen könnten noch in der Nähe sein«,
sagt er. »Warum machen Sie ein solches Theater? Die Toten hier müssen Sie doch
schon auf dem Weg zum Ball gesehen haben.« Er zieht ein kleines
Musselin-Säckchen aus seiner Weste und reicht es mir. »Hier. Halten Sie sich
das an die Nase.«
    Ich halte es mir vors Gesicht wie eine Gasmaske. Es riecht
intensiv nach Zimt und Orangen und hilft tatsächlich ein wenig. Wir gehen
weiter. Ich halte den Blick auf die Grufties gerichtet. Sehe weder nach rechts
noch nach links.
    Ich weiß, dass die Franzosen Gestank mögen. Sie mögen
stinkenden Käse und Trüffel. Napoléon schrieb Josephine von der Front, sie
solle sich nicht waschen, weil er in ein paar Tagen nach Hause komme. Das weiß
ich alles. Aber das hier widerspricht jeder Logik. Ich bin fest überzeugt, dass
ich sterben werde, wenn ich nicht bald aus diesen Tunneln rauskomme, und diese
Typen tun so, als wäre das alles nichts Außergewöhnliches. Ich beginne vor mich
hinzusummen. Ich summe die Ramones. I Wanna Be Sedated . Weil ich
genau jetzt wirklich betäubt sein möchte.
    Schließlich geht es bergauf. Der steinige Boden steigt steil nach
oben und endet an einer eisernen Wendeltreppe. Wir gehen durch eine Metalltür,
ähnlich derjenigen, durch die ich einst hereingekommen war, dann durch einen
Gang. Der irre Typ öffnet eine weitere Tür, klein und aus Holz, und ich befinde
mich in einer Krypta – einer echten staubigen und modrigen Gruft.
Glücklicherweise sind die Toten hier ordentlich weggeschlossen. Sein Freund –
er heißt Henri, wie ich mitbekommen habe – öffnet die Vordertür der Krypta, und
wir treten in einen dunklen Kirchenraum. Er schließt die Tür und führt uns dann
auf eine Kopfsteinpflasterstraße hinaus.
    Â»Ich bin hungrig«, sagt der irre Typ.
    Ich habe das Gefühl, nie mehr irgendwas essen zu wollen.
Überhaupt nie mehr. »Kann ich meine Taschenlampe wiederhaben?«, frage ich. Ich
fühle mich immer noch ziemlich neben der Spur. Ich will nach Hause. Dann werde
ich die Polizei anrufen und den grauenvollen Tatort melden, durch den ich
gerade gewandert bin.
    Der Typ reicht mir meine Lampe, leuchtet mir dabei ins
Gesicht und sagt: »Ihr Kopf. Sie bluten.« Er berührt meine Stirn mit den
Fingern, und sie sind rot. Während ich in meiner Tasche nach Taschentüchern
krame, fragt er Henri, ob er mit ihm zum Essen gehen will.
    Â»Ich kann nicht. Ich muss nach Hause. Sonst bekomme ich Ärger
mit meiner Frau.«
    Frau? Er sieht aus wie achtzehn. Höchstens.
    Die anderen beiden Grufties sagen, sie müssten ebenfalls nach
Hause. Er fragt mich, aber bevor ich ablehnen kann, zieht ihn Henri von mir
weg, allerdings nicht weit genug, als dass ich ihr Flüstern nicht hören könnte.
    Â»Lass ihn hier. Es ist zu gefährlich«, sagt Henri verärgert.
    Â»Ich kann ihn nicht hilflos auf der Straße zurücklassen.
Haben wir nicht schon genug von den Unsrigen verloren?«
    Â»Hört zu, Jungs, ich bin nicht hilflos«, sage ich und habe es
wirklich satt, ständig für einen Mann gehalten zu werden. »Ich kann allein nach
Hause gehen. Ich muss bloß einen Taxistand finden. Oder eine Métro-Station. Mit
mir ist alles in Ordnung. Wirklich.«
    Ich blicke mich um, in der Hoffnung Virgil irgendwo zu sehen.
Oder Jules. Irgendjemanden, den ich kenne. Der irre Typ küsst seinen Freud zum
Abschied, dann nimmt er mir das Taschentuch aus der Hand und tupft meine Stirn
ab.
    Â»Sie müssen das behandeln lassen, bevor es sich entzündet.«
    Â»Könntest du vielleicht einen Moment lang

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