Das Blut der Lilie
mich
nicht, alle Schlafzimmertüren aufzureiÃen. Als ich zum Flur gehe, spüre ich einen
Arm, der sich um meine Taille legt, und Lippen, die sich auf meinen Nacken
pressen. Eine raue Stimme sagt: »Ich wusste, dass du kommst. Aber weswegen bist
du gekommen? Wegen meiner Gitarre oder wegen mir?«
»Wegen deiner Gitarre. Eindeutig.«
»Kaltherzige Sirene«, sagt er, zupft an meinem Ohrring, und
reicht mir die Gitarre, als gäbe er mir eine Stange Kaugummi.
»Darf ich darauf spielen?«, frage ich. Flüsternd.
»Ja. Klar«, antwortet er abwesend. Arden kichert in sein Ohr
und zeigt mit dem Daumen in die Küche. Dann sind sie fort. Ich halte Keith
Richards Gitarre, und ihr Gewicht in meinen Händen fühlt sich zugleich erregend
und beängstigend an. Als hielte ich eine Kobra, einen Sack Diamanten, eine
Bombe.
Ich fange an zu klimpern. Meine Finger greifen a-Moll, E , dann G , die ersten
Akkorde von Angie â aber ich kann sie kaum hören, weil ich im vorderen Flur bin und
zu viele Leute um mich sind. Ich laufe nach oben, zum ersten Treppenabsatz, dann
zum zweiten, aber dort ist es auch nicht besser. Also steige ich weiter hinauf,
bis zur Dachterrasse. Es ist kalt hier oben, aber ruhig.
Alte Gartenmöbel stehen herum. Ich setze mich auf einen
verrosteten Stuhl und streife mir den Gitarrengurt über. Ich bin dieses
Instruments nicht würdig, nicht mal ansatzweise, aber so denken nur die Besten,
nicht die Schlechtesten. Also spiele ich. Ich spiele Angie und Wild Horses und Waiting On A Friend.
Ich spiele, bis mir die Finger wehtun, bis sie blau und steif
sind vor Kälte, und spiele immer weiter. Bis ich mich in der Musik verliere.
Bis ich selbst Musik bin â die Noten, die Akkorde, die Melodie und Harmonie. Es
tut weh, aber das ist okay, denn wenn ich Musik bin, bin ich nicht ich selbst.
Nicht traurig. Nicht verzweifelt. Nicht schuldig.
Ich spiele etwa eine Stunde, dann stopfe ich die Hände in die
Taschen, gehe umher und blicke in den Nachthimmel hinauf. Sterne kann ich keine
sehen. Das kann ich fast nie in Brooklyn. Sie verblassen im grellen Licht der
Stadt. Aber ich kann das dunkle, hässliche Templeton sehen. Die Fenster der
schicken neuen Apartments sind alle hell erleuchtet. Hier und dort blinkt ein
Weihnachtsbaum.
Damals war es auch kurz vor Weihnachten. An dem Tag, als
Truman starb. Es war kalt und die Schaufenster waren hell erleuchtet. An der
Ecke stand ein Typ und verkaufte Christbäume. Weihnachtslieder waren zu hören.
Max stand schreiend auf dem Gehsteig.
An den Heiligen Abend jenes Jahres erinnere ich mich nicht.
Ich erinnere mich nur, dass ich den Christbaum hinausbrachte. Im April. Er war
braun geworden und verlor die Nadeln. Es lagen immer noch Geschenke darunter.
Niemand wollte sie aufmachen, also steckte Dad sie in Abfallsäcke und brachte
sie zur Hilfsorganisation Goodwill.
Ich gehe los. Von dem Ort, an dem ich stehe, bis zum Rand des
Daches sind es neun Schritte. Ich zähle mit beim Gehen. Dann einen Schritt aufs
Kranzgesims hinaus. Ich blicke auf die StraÃe hinab. Es wäre so leicht. Noch
ein Schritt und alles wäre vorbei. Ein kleiner Schritt und keine Schmerzen,
keine Wut, rein gar nichts mehr.
Eine Stimme hinter mir sagt: »Bitte, tuâs nicht. Wirklich.
Bitte.«
Ich drehe mich um. »Warum nicht?«
Nick sagt: »Weil du mir fehlen würdest. Du würdest uns allen
fehlen.«
Ich lache laut auf.
»Also gut, ich würde diese Gitarre vermissen. Echt. Nimm sie
doch ab, bevor du springst, ja?«
Ich bemerke, dass ich noch immer Keith Richards Gitarre
umhängen habe. Ich hätte sie mit hinabgenommen und in Stücke zerbrochen. Ich
bin entsetzt. Ich mache einen Schritt auf ihn zu, einen Schritt vom Kranzgesims
weg. »Tut mir leid. Mein Gott, tut mir wirklich leid, Nick â¦Â«
Und dann trete ich auf eine vereiste Stelle, verliere das
Gleichgewicht, rutsche aus, schreie. Nick erwischt meinen Arm, und es fühlt
sich an, als würden wir beide hinunterstürzen, aber dann reiÃt er mich an sich
und ich taumle aufs Dach zurück.
Er lässt mich los und brüllt mich an. Seine Stimme klingt
röchelnd und rau. Ich weià nicht, was er schreit, weil mir das Herz in den
Ohren dröhnt. Ich weià nicht, was ich tun soll, also lege ich die Gitarre ab
und will gehen, weil ich denke, dass er das möchte. Aber das stimmt nicht.
»Heb sie auf!«, schreit er. »Heb sie
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