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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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hat inzwischen sogar angefangen sie an die
Decke zu nageln.
    Â»Es müssen mindestens zweihundert sein«, sagt er. »Auf allen
ist Truman. Wie lange geht das schon so?«
    Â»Ich weiß nicht. Ein paar Monate.«
    Â»Monate?«
    Â»Hör zu, es geht ihr damit besser. Wenn sie malt, weint und
schreit sie nicht und wirft nicht um sich, okay? Was willst du, Dad? Warum bist
du gekommen?«
    Anstatt an die Decke zu starren, starrt er jetzt mich an.
»Weil ich …«, beginnt er, bricht aber ab. Er wirkt konfus. Er sieht verwirrt
und verlegen aus. Wie wenn man zu jemandem hinläuft, den man zu kennen glaubt,
und ihn am Arm zieht, aber feststellen muss, sobald er sich umdreht, dass man
sich getäuscht hat.
    Â»Weil ich einen Brief von St. Anselm bekommen habe«, sagt er
schließlich. »Ich hab deswegen hier angerufen. Zwanzig Mal. Keiner hat
abgenommen. Ich hab Nachrichten hinterlassen. Niemand hat zurückgerufen. Miss
Beezemeyer behauptet, dass du in allen Fächern durchfällst. Dass du
rausgeworfen wirst. Was zum Teufel ist los, Andi? Nimmst du deine Medikamente?«
    Â»Ja. Ich nehme meine Medikamente, und nur fürs Protokoll, ich
falle nicht in allen Fächern durch. Ich habe eine Eins in Musik. Hat Beezie das
erwähnt?«
    Er hört mich nicht. Oder tut so, als ob er nichts hörte.
    Â»Vor zwei Jahren warst du eine glatte Einser-Schülerin. Du
hast Preise gewonnen in Französisch und Biologie …«
    Â»Und Musik.«
    Â»Ich verstehe das nicht. Ich verstehe dich nicht. Was ist denn
passiert mit dir?«
    Ich schaue ihn fassungslos an. »Meinst du das ernst? Fragst
du mich das im Ernst? Wirklich ernsthaft? Hast du Alzheimer gekriegt oder was?«
    Er schweigt ein paar Sekunden lang. Alles, was ich hören
kann, sind Moms Pinselstriche auf der Leinwand und das Ticken der Uhr auf dem
Kaminsims.
    Dann sagt er: »Verdammt, Andi, Truman ist tot.«
    Â»Dessen bin ich mir bewusst.«
    Â»Also lass ihn los.«
    Â»So wie du es getan hast, was? Ein neues Leben. Keine
Probleme.«
    Â»Truman ist gestorben. Truman. Nicht du«, sagt er.
    Â»Ich weiß. Schade, nicht? Für alle von uns.«
    Er sieht aus, als hätte ihn jemand angefallen. Er setzt sich
in einen Sessel und bedeckt das Gesicht mit den Händen. »Gott, was soll ich
bloß tun?«, fragt er leise.
    Das ist sie. Die große Versöhnungsszene. Ich laufe zu ihm, er
hält mich fest, wir vergießen dicke silberne Tränen und danach ist alles gut.
Ich warte, dass die Musik einsetzt. Ich warte, dass jemand den Einsatz für die
Violinen gibt. Dass kitschiger Hollywood-Schmalz Einzug hält. Aber das passiert
nicht. Und wird nie passieren. Das weiß ich. Ich warte schon zwei Jahre darauf.
    Â»Wann fangen die Winterferien an?«, fragt er und legt die
Hände in den Schoß.
    Â»Heute.«
    Â»Wann fängt die Schule wieder an?«
    Â»Am fünften.«
    Er nimmt seinen BlackBerry heraus. »Okay«, sagt er kurz
darauf. »Das passt. Sogar sehr gut. Du kommst mit mir.«
    Â»Das haben wir schon einmal probiert, weißt du noch? Es
funktioniert nicht. Minna hasst mich.«
    Â»Ich meine nach Paris. Ich fliege am Montag. Ich hab dort zu
tun. Allerdings nur, wenn das Flugpersonal nicht streikt. Das drohen sie schon
die ganze Woche an. Ich übernachte bei G. und Lili. Sie haben eine neue Wohnung
und jede Menge Platz. Du kommst mit mir.«
    Ich lache laut auf. »Nein, das werde ich nicht.«
    Â»Keine Widerrede, Andi. Du kommst mit nach Paris und nimmst
deinen Laptop mit. Wir bleiben drei Wochen. Genügend Zeit, um einen Entwurf für
die Abschlussarbeit hinzubekommen.«
    Â»Vergisst du nicht etwas? Was ist mit Mom? Was machen wir mit
ihr? Überlassen wir sie hier sich selbst?«
    Â»Ich bringe deine Mutter in eine Klinik«, antwortet er.
    Ich starre ihn an, zu schockiert, um etwas herauszubringen.
    Â»Ich habe Dr. Becker angerufen. Gleich nachdem ich hier
ankam. Er weist sie ins Cornell Weill ein. Das ist eine gute Klinik. Mit einem
guten Therapieprogramm. Kannst du ein paar Sachen für sie packen? Ich bringe
sie gleich morgen früh hin und …«
    Â»Warum? Warum tust du das?«, rufe ich wütend. »Du warst nie
da, als du hättest da sein sollen. Jetzt, wo du nicht da sein solltest, bist du
es. Niemand hat dich gebeten herzukommen. Wir kommen ganz gut ohne dich
zurecht. Bestens sogar. Es ist uns immer gut gegangen

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