Das Blut der Lilie
dunkles
Wasser reicht mir bis zu den Fesseln. Dann bis zu den Knien. Es tropft mir auf
den Kopf. Ich gehe langsam und taste mit den FüÃen den Boden ab, um Löcher zu
erspüren. Als ich näher zum linken Ufer komme, steigt das Terrain an und das
Wasser nimmt ab. Aber es ist immer noch so dunkel, dass ich die Leiche erst
sehe, als ich über sie stolpere.
Ich schreie und gerate ins Straucheln, schaffe es aber gerade
noch, mich an einer Wand abzustürzen. Nach etwa einer Minute, als mir das Herz
nicht mehr aus der Brust zu springen droht, sehe ich sie mir genauer an. Der
Tote sitzt gegen eine Wand gelehnt und ist zur Hälfte mit Wasser bedeckt. Er
ist keines von Robespierres Opfern, weil er seinen Kopf noch hat. Neben ihm
liegt eine Laterne im Wasser. Wahrscheinlich hatte er sich verlaufen, seine
Kerze brannte ab oder sein Walöl war aufgebraucht, er verlor die Orientierung,
wurde hysterisch, und starb mutterseelenallein im Dunkeln, schreiend und
verzweifelt schluchzend.
Und da wird mir etwas klar: Genau dasselbe kann auch mir
passieren. Wenn ich stolpere, wenn mir die Taschenlampe entgleitet und von mir
weg rollt. Wenn meine Batterien ausgehen. Wenn ich in ein Wasserloch stürze.
Bei dem Gedanken möchte ich unwillkürlich kehrtmachen. Aber
ich tue es nicht. Denn mit jedem Schritt komme ich dem Strand näher. Wenn ich
jetzt umkehre, muss ich es später mit schwächeren Batterien noch einmal
versuchen. Also gehe ich weiter, und nach ein paar Minuten tropft es nicht mehr
von der Decke. Ich studiere die Karte. Ich bin auf der anderen Seite des
Flusses. Schon halb am Ziel.
Ich setze meinen Weg fort. Ich muss zur Kirche von
Saint-Germain. Gemäà der Karte teilt sich der Tunnel dort in drei Richtungen.
Ein Weg führt nach Westen ins 7. Arrondissement. Einer nach Osten, tiefer ins
6. hinein. Der mittlere, den ich suche, führt nach Süden zum 14. Arrondissement.
Etwa fünfundvierzig Minuten später bin ich dort. Das weiÃ
ich, weil über einem Durchgang Saint-Germain steht. Ich bin total aufgeregt. Ich
habe es tatsächlich geschafft. Allein zum Strand zurückgefunden. Ich bleibe
stehen, um mich ein paar Minuten auszuruhen, esse ein Stück von dem Brot, das
ich mitgenommen habe und gehe dann weiter. Die Karte sagt, dass ich bald an die
Gabelung kommen müsste. Ich beschleunige meine Schritte, erwarte jeden Moment
daraufzustoÃen, aber stattdessen stehe ich schlieÃlich vor einer groÃen dicken
Mauer.
»Das gibtâs doch nicht«, sage ich.
Ich leuchte sie mit meiner Taschenlampe ab. Panthéon ist
darauf geschrieben mit einem Pfeil nach Osten. Daneben steht Invalides ,
mit einem Pfeil nach Westen. Ich stehe an einer Abzweigung mit Tunneln zu
beiden Seiten.
»Ich muss die Karte falsch gelesen habe«, sage ich verwirrt.
Wieder studiere ich die Zeichnung, und während mein Finger
dem Weg nach Saint-Germain folgt, fällt mir ein, dass der Eingang zu dem Tunnel
bei der Madeleine-Kirche als versperrt markiert war, obwohl das nicht stimmte.
Und mit einem flauen Gefühl im Magen wird mir klar, dass ich die Karte nicht
falsch gelesen habe, sondern dass die Kartefalsch ist. Sie wurde im
einundzwanzigste Jahrhundert gezeichnet, aber ich bin im achtzehnten, und
einige der Tunnel, die hier verzeichnet sind â einschlieÃlich desjenigen, den
ich so verzweifelt suche â waren zu jener Zeit noch gar nicht gegraben.
Und plötzlich verliere ich alle Beherrschung. Ich fange an zu
heulen, zu schreien und trete gegen die Mauern. »Warum?«, schreie ich. »Warum?«
Warum bin ich hier? Warum ist mir das passiert? Warum kann
ich diesen Horrortrip nicht abstellen? Es kann keine Drogenreaktion mehr sein.
Die Wirkung des Qwellify hätte inzwischen längst nachgelassen. Es kann keine
Wahnreaktion sein. Ich meine, wie lange hält so was an? Eine halbe Stunde? Ich
kann nicht verrückt sein. Das ist schlichtweg unmöglich. Ich habe bis jetzt
überlebt. Habe rausgefunden, wie ich zu Geld, zu Essen und einer Unterkunft
kommen kann. Habe rausgefunden, wie ich in die Katakomben zurückkehren kann.
Habe mich in pechschwarzer Nacht, mit nichts als einer Taschenlampe und einer
Karte bewaffnet, durch kilometerlange Tunnel gekämpft. Wäre ein Mensch, der
verrückt ist, dazu imstande?
»Also warum?«, schreie ich. »Sag mir, warum!«
Aber die Mauern, die Toten, die Ratten und das Ungeziefer
schweigen. Ich sinke nieder
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