Das Blut der Lilie
und bleibe auf dem Boden sitzen. An die Wand
gelehnt, die Arme um die Knie geschlungen.
Ich möchte zur Rue Saint-Jean zurück. Zu Lili und G. Jetzt
sofort. Ich vermisse Virgil. Und Rémyâs Café. Ich vermisse auch Brooklyn. Und
mein Zuhause. Und Mabrukâs Falafel. Ich vermisse den Geruch der Stadtbusse.
Guten Kaffee. Die Brücke, die nachts hell beleuchtet ist. Ich vermisse meine
Mutter. Und Nathan. Und Vijay. Und Jimmy Shoes.
Aber Arden vermisse ich nicht. Oder Beezie. Oder St. Anselm.
Oder meinen Vater. Das will doch was heiÃen. Es bedeutet, dass ich noch nicht
völlig verzweifelt bin. Noch nicht.
Vielleicht bin ich im Koma? SchlieÃlich bin ich beim Laufen
durch die Tunnel hingefallen und habe mir den Kopf angeschlagen. Vielleicht so
schwer, dass mich die Polizei gefunden und ins Krankenhaus gebracht hat. Und
jetzt liege ich, an tausend Schläuche angeschlossen, auf der Intensivstation
und mein Gehirn spielt mir das Ganze nur vor, um sich zu unterhalten, während
mein Körper reglos daliegt.
Seltsamerweise muntert mich die Vorstellung, ich läge im
Koma, ein wenig auf. Das würde eine Menge erklären â etwa, warum ich aus dieser
Welt noch nicht rausgekommen bin. Ich hebe den Kopf und wische mir mit dem
Ãrmel die Nase ab. Der Strahl meiner Taschenlampe beleuchtet ein Stück Boden,
über den gerade eine schwarze Spinne krabbelt. Während ich die Spinne
beobachte, wird das Licht schwächer. Nur ein klein wenig.
Höchste Zeit aufzubrechen. Ich möchte nicht mehr hier unten
sein, wenn die Batterien ihren Geist aufgegeben haben. Nur für den Fall, dass
ich mich täusche, was das Koma anbelangt.
Ich rapple mich hoch und mache mich auf den langen Weg
zurück.
  74 Â
»Hugo stinkt wirklich fürchterlich. Waschen Sie ihn denn
nie?«, frage ich Amadé.
Der Höllenhund liegt auf dem Bett neben mir. Jedes Mal, wenn
ich versuche, ihn wegzuschieben, knurrt er mich an.
»Ehrlich. Sie könnten ihn in der Seine schwimmen lassen,
wissen Sie. Das würde helfen.«
Ich erhalte keine Antwort. Bloà immer und immer wieder die
gleichen Akkorde. Amadé komponiert, oder versucht es. Ich liege auf dem Bett
und starre an die Decke. Seit der Rückkehr von meinem Ausflug in die Katakomben
liege ich hier. Amadé war nicht unbedingt begeistert, mich wiederzusehen, aber
er lieà mich herein.
Ich ziehe mir ein Kissen über den Kopf, um die Missklänge
nicht zu hören, aber es funktioniert nicht. Wie ist er je ein so berühmter
Komponist geworden, wenn er nicht mal über diese drei Akkorde hinauskommt?
Ich halte es nicht mehr aus und hebe das Kissen. »Wechseln
Sie zu b-Moll! Sie brauchen im dritten Takt die verminderte Quinte, okay?«,
rufe ich.
Amadé schlägt fluchend mit der Faust auf den Tisch. »Hab ich
Sie um Ihre Meinung gefragt? Nein! Ich brauche keinen Ratschlag. Was ich
brauche, ist Kaffee!«
Kaffee ist das geringste unserer Probleme. Wir haben nichts
zu essen. Was ich gestern mitgebracht habe, ist schon weg. Wir haben auch kein
Brennholz. Ich setze mich auf. Hugos Gestank raubt mir den Atem.
»Wir müssen etwas essen«, sage ich. »Ich gehe zum Palais und
sehe zu, dass ich ein paar Münzen ergattern kann. Wenn es klappt, besorge ich
Kaffee.«
Amadé murmelt etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe. Er
sitzt über den Tisch gebeugt und kritzelt Noten aufs Papier.
Eigentlich habe ich keine Lust, zum Palais zu gehen â bei der
Erinnerung an die besoffenen Schlägertypen läuft mir ein Schauer den Rücken
runter â, aber ich habe keine Wahl. Ich öffne meinen Gitarrenkoffer, um das
Instrument zu stimmen, bevor ich gehe, und sehe, dass meine E-Saite gerissen
ist.
»Haben Sie Ersatzsaiten übrig?«, frage ich.
Er deutet auf eine Kiste auf dem Tisch. Ich öffne sie und
finde ein einziges Saiten-Gewirr. Das Problem ist, die meisten von ihnen sehen
nicht so aus wie die, die ich üblicherweise verwende. SchlieÃlich finde ich
eine, die einer E-Saite ähnelt. Ich ziehe sie auf und versuche, meine Gitarre
zu stimmen. Aber es funktioniert nicht. Die Saiten passen im Klang nicht
zusammen. Vielleicht weil die in Amadés Kiste aus Katzen-, Hunde- oder
Eichhörnchendärmen gemacht sind.
»So geht das nicht«, sage ich zu ihm. »Ich brauche einen
ganzen Satz.«
»Dann gehen Sie und kaufen Sie einen.«
»Womit? Ich habe kein Geld. Das
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