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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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zu erzählen. Und vom Zweiten
Weltkrieg. Aber er begreift die Sache mit den Panzern und Flugzeugen nicht.
    Wir biegen nach rechts in die Rue d’Anjou ein. Ich ziehe
meine Jacke aus und binde sie mir um die Taille. Es ist sonnig und warm, der
Gitarrenkoffer wiegt schwer auf meinem Rücken, und ich bin klatschnass
geschwitzt. Ich konnte mich nicht baden und fühle mich klebrig an und rieche
nicht gut. Aber ich habe gelernt, dass Gestank irgendwann eine kritische Masse
annimmt. Ab einem bestimmten Grad spaltet er sich ab.
    Wir gehen durch eine namenlose Gasse, die so schmal ist, dass
ich zu beiden Seiten die Mauern berühren kann. Amadé kommt wieder auf den iPod
zurück. Er fragt mich, warum so viele Lieder darauf auf Englisch sind. Ich
erkläre ihm, dass Englisch die Sprache ist, die in der Welt am meisten
gesprochen wird. Er hält es für unmöglich, dass die Menschen eine so hässliche
Sprache dem Französischen vorziehen werden. Dann fragt er mich nach einem Mann
namens Led, Nachname Zeppelin, und welches Instrument er benutzt hat, um die
Töne in Immigrant
Song zu erzeugen.
    Â»Eine elektrische Gitarre«, erkläre ich ihm. Er sieht mich
verständnislos an.
    Â»Wissen Sie, was Elektrizität ist?«
    Â»Elektrizität«, wiederholt er mit gerunzelter Stirn. »Ich
glaube, ich habe davon gehört. Der amerikanische Botschafter hat sie erfunden.
Benjamin Franklin. Wollen Sie damit sagen, Monsieur Zeppelins Gitarre wird
durch Blitze betrieben?«
    Â»Nein, nicht durch … ja, doch«, antworte ich lachend. »Genau
das meine ich.«
    Â»Es ist ein wundersames Ding«, sagt Amadé.
    Â»Ja, das ist es«, antworte ich und denke, wie cool es ist,
dass Amadé Jimmy Pages Gitarrenspiel gefällt. Weil zweihundert Jahre später
Jimmy Page dem Rolling
Stone erzählen wird, wie sehr ihm Amadé Malherbeaus Musik
gefällt.
    Â»Ah! Sehen Sie, wo wir sind. Fast da. Kommen Sie, wir müssen
über die Straße«, sagt Amadé und nimmt meinen Arm. Wir biegen in die Rue de la
Corderie ein, weichen einer Kutsche, zwei Sänften und zahllosen Pferdeäpfeln
aus.
    Und dann sehe ich es – ein uraltes, hässliches Gebäude, das
sich über die umgebende Steinmauer erhebt. Ein dunkler Turm, der in den Himmel
aufragt. Das Temple-Gefängnis.
    Während ich dastehe und hinaufstarre, wird dieser ganze
seltsame Ausflug real. Die Geschichte selbst wird real. Es ist kein Bericht
mehr. Kein Kapitel in einem Text. Kein Eintrag in einem Tagebuch. Es ist real.
Er ist real. Er ist dort drinnen. Er leidet. Stirbt. Nicht in der
Vergangenheit. Sondern jetzt. In diesem Moment. Ich habe das Gefühl, keine Luft
mehr zu kriegen.
    Â»Amadé«, sage ich. »Dort drinnen ist ein Junge. Louis
Charles.«
    Amadé ist ein paar Schritte vor mir. »Ich weiß«, antwortet er
schroff. »Da ist nichts zu machen.« Er kommt zurück zu mir und nimmt meinen
Arm, aber ich rühre mich nicht.
    Â»Er ist doch nur ein Kind, Amadé.«
    Â»Er ist ein hoffnungsloser Fall«, erwidert er. »Kommen Sie.«
    Aber ich komme nicht mit. Niemals. Ich stehe einfach da und
blicke zu dem Turm hinauf. Ich erinnere mich an Alex’ Beschreibung des
sterbenden Jungen. An die Beschreibung seiner Leiden, ihres eigenen Leids. An
die Verzweiflung, die sie überkam, weil sie ihn nicht retten konnte. Ich
erinnere mich an ihre Entscheidung, in Paris zu bleiben, obwohl sie hätte
fliehen können.
    Sie starb, als sie versuchte, Louis Charles zu helfen. Sie
starb hier. In Paris. Im Juni 1795. Und jetzt bin ich hier. In Paris. Im Juni
1795 stehe ich an dem Ort, wo sie gestanden hat. An ihrer Stelle. Ich stelle
den Gitarrenkoffer ab und nehme mein Instrument heraus.
    Â»Sind Sie verrückt?«, zischt Amadé.
    Ich trete ein Stück von der Mauer zurück, weil ich möchte,
dass meine Musik nach oben steigt, nicht von den hässlichen Steinen geschluckt
wird. An die leicht falsch klingende E -Saite
verschwende ich keinen Gedanken mehr. Ich fühle mich nicht mehr verrückt,
erschöpft oder komatös. Im Gegenteil, ich fühle mich mental voll auf der Höhe.
    Ich beginne zu spielen. Ich spiele Hard Sun und versuche, die
Anfangsakkorde hart und präzise anzuschlagen. Ich fange zu singen an, bemühe
mich, Eddie Vedders Stil rüberzubringen, möchte, dass meine Stimme stark und
laut klingt, dass sich ihr Klang hoch in die Luft erhebt.
    Â»Hören

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