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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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habe ich Ihnen doch gerade
gesagt.«
    Â»Gehen Sie zu Rivard. Dort habe ich Kredit. Auf der Rue de la
Corderie. Gleich nördlich von hier. Die Rue Rue d’Anjou hinauf.«
    Ich nehme meinen Stadtplan von Paris heraus, aber die Rue
d’Anjou ist nirgendwo eingezeichnet. Das überrascht mich nicht. »Weit nach
Norden? Oder bloß ein paar Straßen nach Norden? Können Sie mir das sagen,
Amadé?«
    Er wirft den Federkiel auf den Tisch. »Na schön. Ich begleite
Sie. Sind Sie dann endlich zufrieden?«
    Â»Ja, das bin ich. Wird ein gefüllter Magen Sie
zufriedenstellen?«
    Er antwortet nicht, zieht nur seine Jacke an und stopft den
iPod in die Tasche.
    Unten auf der Straße sage ich: »Sie müssen diese Akkordfolge
aufgeben. Sie funktioniert nicht für Ihre Art von Musik.«
    Â»Ich habe etwas ganz Ähnliches auf dem Musikautomaten gehört.
Ich wollte eine Variation ausprobieren.«
    Â»Was haben Sie gehört? Beethoven? Mozart?«
    Â»Radiohead.«
    Ich muss schallend lachen.
    Er zieht den iPod heraus. »Erklären Sie mir bitte etwas«,
sagt er.
    Â»Was?«
    Er deutet auf das Register. »Das da … Fitter, Happier .«
    Ich schüttle den Kopf. »Tut mir leid, Mann, das ist nicht
möglich. Um das zu erklären, würde ich die nächsten zwei Jahrhunderte
brauchen.«
    Â Â 75  
    Irgendwie ist sie schön, diese beängstigende Welt.
    Noch immer möchte ich sie so schnell wie möglich verlassen,
aber wenn ich mich umblicke und nicht daran denke, wie irrsinnig das Ganze ist,
und sie nur betrachte, ohne auszuflippen, ist sie wirklich schön. Sie stinkt
zwar wie die Pest, ist aber schön.
    Wir gehen nach Norden durch das Marais. Hier gibt es Höfe und
Gärten, in die ich durch die Haustore hineinspähen kann. Blumen blühen darin.
Ein Mann treibt eine Schafherde durch die engen, mit Kopfstein gepflasterten
Straßen. Ein anderer trägt einen Käse so groß wie ein Wagenrad in seinen Laden.
Ein hoch aufgerichtetes Mädchen in einem schieferblauen Kleid, das goldene Haar
zusammengesteckt, putzt Fenster. Männer sitzen in einem Kaffeehaus, trinken
Kaffee aus Porzellanschalen und rauchen Tonpfeifen. Amadé bleibt stehen und
sieht mit sehnsüchtigem Blick zu ihnen hinüber.
    Â»Kommen Sie, Sie Koffein-Junkie«, sage ich und ziehe ihn am
Ärmel. »Je früher ich meine Saiten kriege, desto schneller kriegen Sie ihren
dreifach großen, extra starken Cappuccino.«
    Â»Was?«
    Â»Ach nichts.«
    Wir gehen weiter. Es gibt kein Plastik in dieser Welt. Kein
Neon. Keine Autoabgase. Keine Alu-Verkleidung. Kein fluoreszierendes Licht.
Keine lärmenden Touristen in T -Shirts mit der
Aufschrift: MEINE ELTERN DURFTEN SEHEN WIE DEM KÖNIG DER
KOPF ABGESCHLAGEN WURDE, UND ALLES, WAS ICH BEKOMMEN HABE, IST DIESES
BESCHISSENE SHIRT .
    Wir gehen an einer Frau vorbei, die mit einem Becher in der
Hand an einem Brunnen steht. Sie trägt ein schwarzes Kleid, an das ein
rot-weiß-blaues Band geheftet ist. Sie ist dünn und sieht traurig aus. Zwei
kleine magere Kinder sitzen zu ihren Füßen. Ihr Anblick bringt mich fast um.
    Â»Eine Kriegerwitwe«, sagt Amadé.
    Ich drehe mich nach ihr um. Ich sehe, dass sie sich bewegt.
Höre sie sprechen. Sie ist vollkommen lebendig, aber ich weiß, dass ich einen
Geist vor mir habe. Zweihundert Jahre sind vergangen, seit sie durch die
Straßen von Paris ging. Seitdem hat es viele Revolutionen und Kriege gegeben.
Millionen von Menschen wurden getötet. Und diejenigen, die zurückblieben, wie
diese Frau hier, reden sich ein, es sei die Sache wert gewesen und aus dem
Chaos, dem Tod und Verlust werde etwas Besseres entstehen. Wahrscheinlich
müssen sie sich das vormachen. Was bleibt ihnen sonst übrig?
    Â»Ich wünschte, ich hätte etwas Geld. Ich würde ihr ein paar
Münzen geben«, sagt Amadé.
    Â»Ich wünschte, ich hätte etwas Mut. Ich würde ihr sagen, dass
es mir leid tut.«
    Â»Was meinen Sie damit?«
    Â»Was ich sagte. Ich würde mich entschuldigen. Im Namen der
Zukunft.«
    Â»Warum?«
    Â»Weil wir immer noch so weitermachen. Wenn Sie glauben, die
Revolution sei schlimm gewesen, dann sollten Sie sich mal den Ersten Weltkrieg
ansehen. Nach diesem Krieg hätte es mit den Metzeleien eigentlich vorbei sein
sollen. Was sich leider als falsch erwiesen hat.«
    Â»Erster Weltkrieg?«
    Ich versuche, ihm davon

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