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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Sie auf! Wir müssen hier weg!«, ruft Amadé ängstlich
und zieht mich am Arm.
    Ich schüttle ihn ab und spiele weiter. Härter. Lauter. Ich
schneide mir in den Finger. Spüre Blut auf den Saiten. Höre Geschrei. Es dringt
von den Gefängnistoren herüber. Amadé flucht, schimpft. Verdrückt sich. Ein
Mann kommt auf mich zu. Er trägt Uniform und ein Gewehr. Wie aus dem Nichts ist
er plötzlich aufgetaucht.
    Â»Weitergehen«, schreit er mich an.
    Â»Bitte, Monsieur. Beachten Sie ihn nicht«, sagt Amadé und
kommt zurückgelaufen. »Er ist nicht ganz bei Trost. Er hat sich den Kopf
angeschlagen und seitdem …«
    Â»Hör auf zu spielen!«, ruft der Gardist.
    Aber ich höre nicht auf.
    Â»Hast du mich verstanden?«
    Ich höre immer noch nicht auf. Daraufhin hebt er sein Gewehr
und schlägt mir mit dem Kolben ins Gesicht. In meinem Kopf gehen die Lichter
aus. Ich falle auf die Knie.
    Â»Schluss jetzt. Sofort. Oder ich erschieße dich!«
    Ich blicke zu ihm auf. »Woher sind Sie gekommen?«, frage ich
ihn.
    Er hebt erneut das Gewehr und drückt mir den Lauf an die Stirn.
Blut läuft mir über die Wange. Bilder blitzen vor meinen Augen auf. Bilder von
Mönchen im Feuer. Von Leichen in einer Grube. Von brennenden, mit Napalm
beschossenen Kindern, die einen Feldweg entlang rennen. Ich schiebe den
Gewehrlauf weg und stehe auf. In einer Hand halte ich meine Gitarre, mit der
anderen wische ich mir das Blut vom Gesicht.
    Â»Ein anständiger Mann. Der nur seinen Job macht«, sage ich zu
ihm. »Sie waren immer da. Und werden es immer sein.«
    Â Â 76  
    Die gleichen Akkorde. Immer wieder. Keinerlei Fortschritt.
    Amadé sitzt an einem Ende des Tischs, ich am anderen und
    versuche, ihn dazu zu bewegen, mit mir zu sprechen.
    Â»Ich soll sagen, dass es mir leid tut? Es tut mir aber nicht
leid. Ich würde es wieder tun.«
    Er antwortet nicht.
    Ich ging vom Temple weg, nachdem der Gardist mich geschlagen
hatte. Ich besorgte mir neue Saiten und machte mich auf den Weg zum Palais, um
dort zu spielen. Mein besoffener Freund war dort. Er nannte mich wieder
Pocahontas und sagte, ihm gefalle das Blut auf meinem Gesicht, weil ich damit
noch wilder aussähe. Ich sagte ihm, ich hätte mich befleckt, als ich den
letzten Idioten skalpierte, der mich anzugrapschen versucht hatte. Und ihn
würde ich ebenfalls skalpieren, wenn er es noch ein Mal wagte, mich anzufassen.
    Er legte die Hand aufs Herz, sagte, er liebe mich, und warf
einige Münzen in meinen Gitarrenkoffer. Und diesmal schnappte ich sie mir,
bevor der blinde Junge es tat. Ich kaufte Essen, einen Knochen für Hugo, und
ein halbes Pfund Kaffee. Er kostete ein Vermögen, aber ich wusste, ohne Kaffee
brauchte ich mich bei Amadé nicht wieder blicken zu lassen.
    Â»Er ist ein Kind, Amadé. Er ist allein und stirbt«, sage ich
jetzt zu ihm.
    Â»Noch ein Wort zu diesem Thema und ich werfe Sie raus.«
    Â»Nur zu. Dann nehme ich den Kaffee mit.«
    Er funkelt mich an.
    Â»Er friert und ist hungrig. Leidet in der Dunkelheit.«
    Â»Das stimmt nicht. Er wird gut versorgt.«
    Â»Er ist krank und hat Schmerzen, und zwar seit Jahren schon,
Amadé. SeitJahren .«
    Â»Woher wissen Sie das?«
    Â»Aus Büchern. Dutzende werden über die Revolution geschrieben
werden. Hunderte. Zwei Jahrhunderte nach dem Geschehen versuchen die Menschen
immer noch, sie zu verstehen.«
    Â»Die Revolution ist Vergangenheit. Zu Ende. Vorbei.«
    Ich fange an zu lachen. »Sie ist nie vorbei. Sie hatten einen
König. In ein paar Jahren werden sie einen neuen haben.«
    Â»Was wird passieren?«
    Â»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Bonaparte übernimmt die
Macht. Er krönt sich selbst zum Kaiser. Obwohl ihr genau dafür gekämpft habt, dass
so etwas nie mehr passiert. Er überzieht die Welt mit Krieg. Vermasselt alles.
In richtig großem Stil.«
    Â»Ich meinte, mit dem Jungen?«
    Ich wende mich ab.
    Â»Wenn Sie schon so viel wissen, dann sagen Sie mir, was mit
ihm geschieht.«
    Â»Er stirbt«, sage ich leise.
    Amadé schnaubt. »Warum kümmern Sie sich dann? Wozu denn?«
    Ich kann ihm nicht antworten.
    Â»Sie sind verrückt. Vielleicht durch den Sturz, vielleicht
waren Sie vorher schon verrückt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass Sie nie
mehr tun dürfen, was Sie heute getan haben. Das nächste Mal bringt man Sie

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