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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Grifftechnik
verbessern oder mir zeigen kann, wie man einen kniffligen Akkord sauberer
spielt. Wir spielen stundenlang. Led Zeppelin und vieles andere. Traurige Songs
in Moll-Tonarten. Auch als es dunkel wird, hören wir nicht auf. Wir zünden
Kerzen an. Vergessen zu essen.
    Und später, viel später, nachdem wir aufgehört haben, nimmt
er mein Gesicht zwischen seine Hände und küsst mich auf die Wangen.
    Â»Seien Sie vorsichtig«, sagt er. »Sie können das Unrecht in
dieser erbärmlichen Welt nicht geradebiegen. Mein Vater hat es versucht, und
Sie wissen, was mit ihm geschehen ist. Gehen Sie kein solches Risiko mehr ein
wie heute vor dem Gefängnis. Zünden Sie keine Feuerwerke mehr.«
    Â»Aber Amadé …«
    Â»Leugnen Sie es nicht. Ich habe erraten, wer Sie sind. Beten
Sie, dass Bonaparte es nicht tut.«
    Dann geht er müde und gequält zu Bett. Ich spiele noch ein
bisschen weiter, weil ich weiß, dass die Musik ihm hilft, die schlechten
Gedanken und die schlimmen Erinnerungen zu vertreiben. Als ich ihn schließlich
tief atmen höre, halte ich inne. Ich starre eine Weile aus dem Fenster in die
Dunkelheit hinaus und denke nach.
    Ãœber Amadé und all die Dinge, die er mir erzählt hat – wie er
seine Eltern sterben sah, seine Heimat verließ und seinen Namen änderte. Dass
er nicht mehr komponieren kann.
    Ich denke über Alex nach. Über ihren letzten Tagebucheintrag.
Hingekritzelt. Nicht beendet. Mit ihrem Blut beschmiert. In ihren
Gitarrenkoffer geschoben, kurz bevor die Wachen kamen. Oder bevor sie verblutet
ist.
    Ich höre die Stimme des Herzogs von Orléans in meinem Kopf,
hochfahrend und arrogant, der Alex sagt, dass nichts sich ändert am Lauf der
Welt, dass sie sich stumpfsinnig und brutal weiterdreht.
    Und dann höre ich ihre Stimme, ruhig und klar. Einmal waren Sie tapfer.
Einmal waren Sie gütig. Sie könnten wieder so sein.
    Ich gehe zu Amadés Bett hinüber, greife darunter und ziehe
ein in Leinen gewickeltes Bündel hervor – Fauvels Bündel. Ich trage es zum
Tisch und packe vorsichtig, eine nach der anderen, die Raketen in meinen leeren
Gitarrenkoffer. Ich schließe ihn, nehme eine Schachtel Zündhölzer aus meiner
Tasche und trete leise in die Nacht hinaus.
    Â Â 77  
    Der Nachthimmel ist bewölkt. Ich kann die Sterne nicht sehen.
    Â»Das ist der Grund, Alex, nicht wahr. Deshalb bin ich hier«,
    flüstere ich in die Dunkelheit. »Um es zu Ende zu bringen.«
    Sie kann mir nicht antworten. Sie ist tot.
    Wohin steckt man die Stäbe, fragte ich mich beim Betrachten
der Raketen. Ist dieses wachsartige Ding die Zündschnur? Was passiert, wenn ich
vom Dach falle? Wahrscheinlich wäre ich schnell unten. Viel schneller als es
dauert, die sechs Stockwerke hinaufzusteigen, die ich gerade erklimme.
    Ich stecke den Stab in den unteren Teil der Rakete und hoffe
das Beste. Dann strecke ich mich von meinem Hochsitz unterhalb eines Kamins
nahe der Dachspitze eines Hauses in der Rue Charlot weit nach vorn und ramme
den Stab zwischen die Dachziegel. Ich zünde ein Streichholz an und halte es an
die Zündschnur. Sie fängt Feuer und brennt. Die Rakete sprüht Funken. Aber
nichts passiert. Sie bleibt einfach stehen.
    Sie bewegt sich nicht vom Fleck. Spuckt einfach bloß
knisternde Funken, hebt aber nicht ab. Dabei ist sie mit Schießpulver
vollgestopft. Schießpulver– sie wird Feuer fangen und jeden Moment wie eine Bombe
explodieren und das Hausdach wegsprengen. Und mich mit.
    Aber dann ertönt ein lautes Zischen und sie ist fort. Fort!
Ich kann ihren hellen Kometenschweif in die Dunkelheit aufsteigen sehen. Immer
höher und höher. Und plötzlich ertönt ein schrecklicher Knall und wie durch ein
Wunder funkeln Millionen winziger Sterne am Himmel über mir.
    Â»Ha!«, schreie ich laut.
    Dann werfe ich die Arme in die Höhe, klatsche in die Hände
und verliere das Gleichgewicht, sodass ich auf das abschüssige Dach stürze. Ein
Ziegel rutscht weg und fällt hinunter. Ich höre, wie er auf der Straße
aufschlägt und zerbricht. Mit den Handballen suche ich Halt und ziehe mich
wieder nach oben.
    Ich zittere so heftig, dass ich kaum das nächste Zündholz
anstecken kann, aber ich schaffe es. Ich zünde auch die nächste Rakete. So
schnell ich kann. Weil ich mit meiner Arbeit fertig sein und abhauen muss,
bevor die Wachen kommen.
    Wieder folgt

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