Das Blut der Lilie
Beruhig dich«, sage ich.
Langsam, um ich nicht zu erschrecken, durchquere ich den Raum
und öffne das Fenster. Der Vogel schüttelt den Ruà von seinem Federkleid, reckt
den Kopf und rührt sich nicht.
»Na los«, sage ich. »Flieg davon.«
Er bewegt sich immer noch nicht.
»Los, schwing dich hinauf, kleiner Spatz. Flieg davon.«
Kleiner
Spatz.
Ich werfe mich zu Boden und krieche in den Kamin hinein.
Ziehe das Gitter heraus, knie mich nieder und versuche, den Kopf in den Schacht
zu stecken. Von oben dringt etwas Licht herein, aber sonst sehe ich nichts. Ich
krieche wieder heraus, hole die Taschenlampe aus meiner Tasche und versuche es
erneut. Ihr Lichtstahl ist schwächer geworden inzwischen, aber immer noch stark
genug, um das Innere des Kamins auszuleuchten.
Ich sehe eine Menge RuÃ, sonst praktisch nichts. Aber ich
gebe nicht auf, und schlieÃlich entdecke etwas Seltsames â einen kleinen Fleck,
hoch oben, der dunkler wirkt als die übrige Kaminwand. Wie eine Vertiefung.
Eine Höhle.
Ich strecke die Hand aus, reiche aber nicht hinauf. Es geht
nicht. Meine Schultern sind zu breit. Ich lege die Taschenlampe weg, hebe wie
ein Taucher beide Arme über den Kopf und versuche es noch einmal. Fast
geschafft. Ich kann die untere Kante der Vertiefung mit den Fingern spüren. Ich
stelle mich auf die Zehenspitzen, strecke jeden Muskel in meinem Arm, und dann
berühre ich etwas. Etwas Hartes. Ein Kästchen, denke ich. Ich versuche, danach
zu greifen, schiebe es aber nur weiter in die Höhle hinein. Ich beuge mich
wieder hinunter, nehme den Kaminrost und stelle mich darauf. Ohne Taschenlampe
kann ich nichts sehen. Mich kaum bewegen. Ein schrecklicher Gedanke durchzuckt
mich. Was, wenn ich steckenbleibe? Keiner würde meine Hilferufe hören.
Nur noch ein wenig höher, sage ich mir. Ich stelle mich
wieder auf die Zehenspitzen und taste nach der Vertiefung. Meine Hände
umschlieÃen das Kästchen. Ich ziehe es heraus. Ruà fällt mir auf den Kopf. Und
dann das Kästchen.
Mit dem Kästchen in der Hand krieche ich aus dem Kamin
heraus. Es hat ungefähr die GröÃe einer Bonbonschachtel. Blumen und Drachen
sind darauf gemalt. Auf einem Etikett steht die Adresse eines Pariser Teeladens.
Ich öffne den Deckel. Es liegen etwa ein Dutzend Goldmünzen darin. Zwei
Diamantringe. Drei Smaragdarmbänder, die nicht echt aussehen. Eine goldene
Taschenuhr. Eine silberne Schnupftabaksdose. Ein halbes Dutzend Rubinknöpfe.
Ein kleines Säckchen Nelken. Es ist nicht Ali Babas Schatz, wird seinen Zweck
aber erfüllen.
Ich sehe die Münzen durch, halte den Ring ins Licht und öffne
die Schnupftabaksdose. Den Vogel habe ich ganz vergessen. Bis er mich
ankreischt.
»Was?«, frage ich ihn. Er blinzelt mich an, fliegt zum
Fenster und ist fort.
Ich sollte auch zusehen, dass ich fortkomme. Benoît hat mir
nur eine Stunde gegeben. Ich muss in den Keller zurück, bevor er die Wachen
ruft.
Ich nehme eine Goldmünze aus dem Kästchen und stopfe alles
andere in meine Kleidung. In meine Jackentaschen, meine Stiefel, meine
Unterwäsche. Dann reiÃe ich ein Stück von den zerschlissenen Vorhängen ab,
schlinge es um das Kästchen und verknote es. Mir wurde auf den StraÃen von
Brooklyn schon unzählige Male mein Taschengeld geraubt. Auch Schmuck und ein
iPod. Einen Gangster erkenne ich auf Anhieb, und Benoît ist einer.
Ich stecke das Kästchen unter den Arm und renne los. Aus
Alexâ Kammer, Treppen hinunter und Gänge entlang, in die Küche, durch die
verborgene Tür und in Foys Keller zurück.
Benoît wartet auf mich. »Wo bist du so lange gewesen?«,
zischt er und verstellt mir den Weg.
Ich lege eine Goldmünze in seine Hand. Er reiÃt seine
Schweinsäuglein auf, sieht mich von oben bis unten an und bemerkt den Ruà auf
meinem Gesicht und meinen Kleidern.
»Gib mir den Rest«, sagt er.
»Welchen Rest?«
»Den Rest von dem Gold. Und was du sonst noch in diesem
Kästchen hast.«
»Da ist nichts in dem Kästchen. Bloà Papiere.«
Er reiÃt es mir weg.
»Gib es zurück!«, schreie ich und tue so, als wollte ich
danach greifen. Er schiebt mich weg, tritt zurück und dreht mir den Rücken zu.
Genau wie ich gehofft hatte. Ich schieÃe an ihm vorbei, während er an dem
Knoten zupft, und renne die Treppe hinauf. In der Küche brüllt der Koch immer
noch. Ein Mann,
Weitere Kostenlose Bücher