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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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gewimmelt haben vor Bediensteten, aber jetzt
ist die Küche still und leer. Meine Schritte hallen wider, als ich
hindurchgehe.
    Ein Palast im Kleinen – so hatte Alex die Gemächer des
Herzogs beschrieben. Zahlreiche Säle über mehrere Stockwerke verteilt, und ich
habe nur eine Stunde, um zu finden, wonach ich suche: das Geld, die Juwelen und
den Kleinkram, den sie gestohlen hat. Das alles brauche ich, weil heute der Tag
ist, an dem Fauvel mich wieder treffen will. Er bringt die Raketen mit. Und er
wird sie mir nicht geben, wenn ich ihn nicht bezahle.
    An Amadés Rat, kein Risiko mehr einzugehen, habe ich mich
nicht gehalten. Ich bin eine Menge Risiken eingegangen. Zwei Nächte zuvor habe
ich die Hälfte von Fauvels Raketen abgeschossen und die andere Hälfte
vergangene Nacht.
    Â»Okay, Alex, wo muss ich hingehen? Ich habe fünfundvierzig
Minuten, bevor Benoît die Wachen ruft und diese mich halb tot prügeln werden.
Ich brauche etwas. Bargeld. Klunker. Irgendwas. Also, wo?«
    Ich bekomme keine Antwort, natürlich nicht. Also gehe ich
weiter. Durch die Küche, nach oben in einen Speisesaal. Er muss einmal sehr
schön gewesen sein. Doch jetzt ist Tisch zerkratzt. Die Spiegel sind
zerbrochen. Alle Bilder aufgeschlitzt. Ich gehe weiter, Saal um Saal. Durch
Gänge und Korridore. Blicke unter Möbel, auf Kaminsimse, hinter Statuen.
    Ein Saal ist so riesig, so absolut phantastisch – mit hohen,
vergoldeten Kaminumrandungen und gemalten Nymphen an der Decke –, dass ich
beschließe, dies muss der Ballsaal des Herzogs gewesen sein. Als ich ihn
durchquere, finde ich ein blassblaues Band auf dem Boden, verwelkte Rosen auf dem
Kaminsims und ein zerbrochenes Cello in einer Ecke. Einen Moment lang kneife
ich die Augen zu und kann sie sehen – den Herzog und seinen Kreis. Die Damen in
Seide und Spitze, mit gepuderten Gesichtern und rot bemalten Lippen. Die Männer
tragen Perücken und weiße Strümpfe. Sie tanzen und lachen. Flackerndes
Kerzenlicht spiegelt sich in Kristallkelchen, Diamantohrringen und
Rubingeschmeide wider. Es gibt Vasen voller Rosen. Parfüm. Zuckerpflaumen.
    Und plötzlich bricht die Musik ab, alle wenden sich mir zu, mit
glitzernden Augen, geröteten Wangen. Und dann lächeln sie. Nicht fröhlich oder
freundlich, sondern hungrig. Einer von ihnen winkt mich zu sich. Ich reiße die
Augen auf und sie sind fort, nur Staub ist zurückgeblieben, der schwer auf, den
Kaminsimsen liegt und in dem Licht schwebt, das durch ein Fenster ohne Vorhänge
einfällt.
    Ich gehe weiter, in einen anderen Speisesaal – einen kleinen.
Und mir wird klar, dass ich diesen Raum kenne. Hierher hat der Herzog von
Orléans Alex gebracht, nachdem sie versucht hatte, seine Börse zu stehlen. Hier
gab er ihr Essen und Wein. Hier schnitt er ihr Haar ab und machte sie zu seinem
Werkzeug.
    Â»Du musst mir helfen«, sage ich. »Dieser Palast ist
riesengroß. Ich bräuchte eine Woche, um ihn zu durchsuchen. Hilf mir.«
    Und dann rieche ich es – Nelken. Ganz intensiv. In einem
verlassenen, leeren Raum. Sie ist hier. Das weiß ich. Sie ist der Schatten im
Spiegel. Die Asche, die im Kamin aufwirbelt. Ich spüre ihren durchscheinenden
Geist, der flink und hell an mir vorbei huscht. Ich folge ihr aus dem Raum
hinaus, Korridore hinab, um Ecken herum und Treppen hinauf, bis wir in einer
Mansardenkammer sind. Sie ist kahl, mit verblichenen Vorhängen, einem
ungemachten Bett, Tisch und Stuhl und einem kleinen offenen Kamin. Dies war
ihre Kammer.
    Ich mache mich an die Arbeit. Suche überall. Unter dem Bett.
Hinter den Vorhängen. Ziehe die dünne Matratze aus dem Bett und reiße sie auf.
Ich knie mich nieder und versuche, die Dielenbretter anzuheben. Den Kamin taste
ich nach losen Ziegeln ab. Aber ich finde nichts.
    Â»Wo hast du es versteckt, Alex?«
    Als Antwort ertönt nur ein Vogelkreischen aus dem Kamin, wo
ein Nest sein muss. Dann höre ich ein scharrendes Geräusch. Es wird lauter. Ruß
bröselt auf die Feuerstelle. Und etwas schießt aus dem Kamin heraus. Ich spüre
flatternde Flügel an meinem Gesicht, kleine Klauen in meinem Haar.
    Erschrocken schreie ich auf und schlage nach dem Vogel. Er
fliegt in die Höhe und landet auf dem Kaminsims. Es ist ein Spatz. Mit dunklen,
glänzenden Augen. Ich kann das winzige Herz in seiner Brust pochen sehen. Er
stößt einen Schrei aus. Dann noch einen.
    Â»Hey.

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