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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ohne dich.«
    Â»Gut? Nennst du das ›gut‹?«, brüllt er zurück. »Das Haus ist
eine Müllhalde. Deine Mutter hat den Verstand verloren. Und dich schmeißt man
demnächst von der Schule. Nichts ist gut, Andi. Rein gar nichts.«
    Â»Ich komme nicht mit. Das schwöre ich.«
    Ich nehme meine Tasche und gehe zur Tür.
    Â»Wo gehst du hin? … Andi? Ich hab dich gebeten …«
    Aus dem Wohnzimmer ertönt ein Krachen.
    Â»Marianne? Alles in Ordnung?«, ruft Dad. Er läuft ins
Wohnzimmer.
    Â»Ich fahre nicht mit nach Paris«, sage ich und schlage die
Tür hinter mir zu. »Ich gehe überhaupt nirgendwo mit dir hin. Das schwöre ich
bei Gott.«
    Â Â 9  
    Es ist kalt auf den Straßen von Brooklyn.
    Ich stehe an der Cranberry Street, Ecke Henry Street. Ein
Neon-Nikolaus leuchtet im Fenster von Kim’s Deli. Unter seinem lächelnden
dicken Gesicht, gehen flackernd drei Wörter an und aus: Ho Ho Ho .
    Das Kim’s ist geschlossen. Das Mabruk ’ s
ist geschlossen. Bei der Reinigung neben dem Mabruk’s, wo die Uhrzeiten
verschiedener internationaler Metropolen angezeigt werden, sehe ich, dass es in
London 5.35 Uhr und in Prag 6.35 Uhr ist.
    Ich muss ins Warme. Ich friere mich zu Tode. Ich habe meine
Jacke vergessen. Ich hauche meine Hände an. Lege die Arme um mich. Ein paar
Sekunden lang stelle ich mir vor, wie es wäre, heimzugehen, ein Feuer zu
machen, mit meinen Eltern heißen Kakao zu trinken und über alles zu reden.
    Ho
Ho Ho , sagt der Neon-Nikolaus.
    Ich sehe wieder auf die Uhren. 5.36 Uhr in Rejkjavik. 8.36
Uhr in Riad. Ist der Sonntag ein Arbeitstag in Saudi-Arabien? Wenn ja, ist
König Abdullah sicher schon auf den Beinen, und Vijay genauso – um ihn ans
Telefon zu kriegen.
    Ich mache mich auf in Richtung Hicks Street. Nummer 32 ist
ein kleines Sandsteinhaus mit einer Ganesha-Statue im Vorgarten. Es brennt kein
Licht im Haus, außer in einem Fenster im zweiten Stock. Dort sehe ich Vijay. Er
hat ein Headset auf. Ich hole ein paar Münzen aus meiner Tasche und werfe sie
an die Scheibe. Eine trifft. Vijay kommt ans Fenster und winkt. Wenig später
geht die Haustür auf. Er sagt mir, dass er in Kabul in der Warteschleife hängt.
    Es ist dunkel im Gang, aber wir machen kein Licht. Ich folge
ihm die Treppe hinauf in sein Zimmer. Hier herrscht Gefahrenstufe eins. Ich
kann nicht durch den Raum gehen, ohne auf Ausgaben des Economist oder der New Republic zu
treten. Auf seinem Laptop läuft Al Jazeera, auf seinem Desktop BBC . Ich kenne niemanden sonst, der solches Interesse an
der schrecklichen weiten Welt hat.
    Ich lasse mich auf sein Bett fallen und decke mich mit der
Steppdecke zu. Er stellt einen Teller aufs Kissen. Samosas. Den Guptas gehören
zehn indische Restaurants.
    Â»Was gibt’s?«, fragt er und setzt sich an seinen Schreibtisch.
    Â»Kann ich …«, will ich gerade mit vollem Mund fragen, aber er
hebt die Hand.
    Â»Ja, Ma’am, ich habe es beim Pressebüro versucht«, sagt er
ins Telefon. »Man hat mir Ihre Nummer gegeben. Nein, ich bin kein Reporter. Ich
versuche, Präsident Karzei zu erreichen, wegen eines Kommentars zu meinem
Abschlussaufsatz. Ich bin Schüler. Ein amerikanischer Schüler. In St. Anselm.
Ähm … St. Anselm? In Brooklyn? Hallo? Hallo?«
    Er nimmt sein Headset ab und flucht.
    Â»Wow, V., ich bin wirklich schockiert«, sage ich. »Ich war
überzeugt, Karzai würde die Taliban bitten, einen Moment Ruhe zu geben, damit
er den Anruf entgegennehmen kann. Vor allem, nachdem du gesagt hast, du seist
auf der St. Anselm.«
    Er schenkt mir einen vernichtenden Blick. Gerade, als ich ihn
fragen will, ob ich heute Nacht bei ihm pennen könnte, hören wir Schritte, die
schnell und entschlossen den Flur entlangkommen. Und dann eine Stimme. »Vijay?
Viiiijay!«
    Â»Volle Deckung«, sagt er. »Hier kommt Atom-Mom.«
    Mrs. Gupta fürchtet sich vor nichts. Mir würden auf Anhieb
eine ganze Menge unappetitlicher Dinge einfallen, die ein Siebzehnjähriger nach
Mitternacht in seinem Zimmer treiben könnte, aber Mrs. Gupta klopft nicht mal
an. Sie reißt einfach die Tür auf und steht, die Hände in die Hüften gestützt,
mit flammendem Blick da – die Göttin Kali in einem Frotteebademantel.
    Â»Vijay! Ich hab dich sprechen hören!«
    Â»Ich hab telefoniert!«
    Â»Ich hab zwei Stimmen gehört!

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