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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Geschichte
des Herzens. Der historische Teil ist mir hinlänglich bekannt.«
    G. zieht eine Augenbraue hoch. »Wirklich?«
    Â»Ja. Wir haben die Französische Revolution in der Schule
durchgenommen. Ebenso die amerikanische, russische, chinesische,
kambodschanische und kubanische. Revolutionen werden in St. Anselm groß geschrieben.
Ich meine, sogar die Vorschüler tragen Che-Guevara-Mützen.«
    G. lacht. »Also, dann lass mal hören. Was weißt du?«
    Â»Also, ähm … Frankreich war bankrott, die Arbeiter hungerten,
die Aristokratie war total sauer, bla, bla, bla. Also schlossen sich die drei
Stände – die Vertreter des Bürgertums, des Klerus und des Adels – zusammen,
bezeichneten sich als Nationalversammlung und stürzten den König. Österreich,
England und Spanien gefiel das nicht, also griffen sie Frankreich an. Einigen
Franzosen gefiel das ebenfalls nicht, worauf ein Bürgerkrieg ausbrach.
Maximilien Robespierre zog Nutzen aus dem Chaos, um an die Macht zu kommen.
Dann zettelte er den Terror an und ließ seine Feinde, also praktisch jeden,
hinrichten, einschließlich der gemäßigteren Revolutionäre – wie Georges Danton
und Camille Desmoulins –, die versuchten, ihn aufzuhalten. Als dem Rest der
Nationalversammlung schließlich dämmerte, dass Robespierre ein Psychopath war,
schickten sie ihn auf die Guillotine. Eine neue Regierung wurde gebildet, das
›Directoire‹, das aber nicht lange Bestand hatte. Napoleon Bonaparte griff nach
der Macht und erklärte sich selbst zum Kaiser. Und danach war Frankreich
ungefähr wieder da, wo es vor der Revolution gewesen war. Ja, das wär’s. In
Kurzfassung.«
    Â»In Kurzfassung?«, fragt G. gequält. » In Kurzfassung? Wir haben es mit
der Französischen Revolution zu tun! Da gibt’s keine Kurzfassung!«
    G. hasst Verkürzungen. Er hasst Zusammenfassungen,
Zitatausschnitte und verkürzte Aufmerksamkeitsspannen und macht für alle diese
Dinge Amerika verantwortlich. Sein Buch über die Revolution ist elfhundert
Seiten lang.
    Â»Komm, G., erzähl mir was über das Herz«, sage ich. »Es ist
so seltsam – dieses winzige Ding in der Glasurne. Ich möchte wissen, wie es
dort hineingekommen ist.«
    Â»Na schön«, sagt er seufzend. »Die Geschichte beginnt im
Jahre 1793. Die Monarchie ist gestürzt. Es herrscht Krieg. In Frankreich wird
die Republik ausgerufen und die königliche Familie in einem alten Pariser
Festungsbau namens ›Temple‹ eingekerkert. Der König wird wegen Verbrechen gegen
die Republik verurteilt und hingerichtet. Die Königin bald darauf. Ihr Sohn
Louis Charles wird nach dem Tod seiner Eltern weiterhin im Temple festgehalten.
Er ist noch ein Kind, erst acht Jahre alt, aber als Thronerbe eine enorme
Gefahr für die Revolution. Es gibt Leute, die ihn befreien und in seinem Namen
regieren wollen. Um seine Flucht zu verhindern, lässt ihn Robespierre praktisch
bei lebendigem Leib einmauern. Vollkommen isoliert, fast ohne jeglichen
menschlichen Kontakt, sitzt der Junge in einem kalten, dunklen Turm. Er hat
kein Feuer, um sich zu wärmen, und muss sich in Lumpen kleiden. Er ist einsam
und verängstigt. Er wird schwach und krank. Am Ende wird er wahnsinnig.«
    Â»Das ist ja furchtbar. Wie konnten die Menschen das
zulassen?«, frage ich. »Er war doch noch ein Kind. Warum hat niemand einen
Protest angezettelt? Oder eine Initiative gegründet, damit das Gefängnis
geschlossen wird? Wie bei Guantanamo.«
    Â»Protest angezettelt? Initiativen gegründet?«, fragt G. leise
lachend. »Unter Robespierre? Ach, meine kleine Amerikanerin, du darfst nicht
vergessen, dass sich Frankreich damals zwar als Republik bezeichnet hat, aber
in Wirklichkeit eine Diktatur war – und Diktatoren reagieren nicht freundlich
auf Kritik. Der schlaue Robespierre stellte sicher, dass nur wenige Leute
wussten, was mit Louis Charles passierte. Aber 1795 … warte einen Moment, ich
habe ein Bild von ihm … die Fotografie eines Porträts. Wo zum Teufel ist es
bloß?« Er greift nach dem Stapel Schwarz-Weiß-Fotos und blättert ihn durch. »Wo
war ich stehen geblieben?«, fragt er.
    Â»Du hast gesagt, nur wenige Leute wussten, was mit Louis
Charles passierte«, antworte ich.
    Â»Ja. Und die Entbehrungen und der Nahrungsmangel forderten
schließlich ihren Tribut. Im Juni 1795, im

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