Das Blut der Lilie
eingeliefert.«
»Und dich hat er nach Paris mitgenommen«, sagt er.
»Ja. Weil wir uns so blendend verstehen, weiÃt du. Weil wir
so wahnsinnig gern zusammen sind. Es ist so groÃartig, in Paris zu sein. Mitten
im Winter. Noch ein bisschen mehr von dieser Herrlichkeit und ich lande
ebenfalls im Irrenhaus.«
» Viiijay! «
»Ich ruf dich wieder an, Andi, und hey â¦Â«
»Was?«
»War bloà ein Witz. Mit dem Eiffelturm und so.«
»Ich weiÃ.«
Es folgt ein langes Schweigen. Ich kann nicht sprechen. Er
wahrscheinlich auch nicht. Ich war früher schon kurz davor. Mich zu
verabschieden. Jetzt bin ich wieder kurz davor. Ich weià das. Und er weià es
auch.
»Tuâs nicht«, sagt er schlieÃlich. »Tuâs nicht.«
Ich schlieÃe die Augen und umklammere das Handy. »Ich
versuchâs, V. Wirklich«, antworte ich.
»Ja?«
»Ja.«
»Im Ernst, bist du okay?«
»Ich bin okay. Jetzt mach schon, ruf Kasachstan an.«
Ich lege auf. Ich bin nicht okay. Ganz und gar nicht. Meine
Hände zittern. Mein ganzer Körper bebt. Das kleine Herz lässt mich nicht los.
Ich habe es in meinen Träumen gesehen, die ganze Nacht. Max habe ich auch
gesehen. Er stapfte herum und fuchtelte mit den Armen. Maximilien R. Peters!,
brüllte er, unbestechlich, unvermeidlich und unbezwingbar! Truman war auch
dort. Er wollte an ihm vorbeigehen.
Wenn ich nur dorthin zurück könnte. In die Henry Street. An
jenen grauen Dezembermorgen. Alles, was ich bräuchte, wäre eine Minute. Nicht
viel Zeit. Nicht die Zeit, die man braucht, um eine Symphonie zu komponieren.
Um einen Palast zu bauen. Um einen Krieg zu führen. Bloà ein paar beschissene
Sekunden. Nur so lange, wie es dauert, einen Schuh zuzubinden. Eine Banane zu
schälen. Sich die Nase zu putzen. Aber ich habe sie nicht. Und werde sie nie
haben.
Auch Dad beendet sein Gespräch. »G. hat dir noch ein paar
Bücher über Malherbeau zurückgelassen«, sagt er. »Auf dem Couchtisch.«
Dankbar für die Ablenkung gehe ich rüber und stelle fest,
dass eines der Bücher Noten enthält â einschlieÃlich eines Konzerts in h-Moll,
das ich nicht kenne. Mein Croissant ist vergessen. Wie alles andere auch. Ich
lege das Buch weg und nehme die alte Gitarre, auf der ich gestern Abend für G.
spielen musste, aus dem Koffer. Ich lese die Noten, greife die Akkordfolgen und
versuche, mir einzuprägen, wie sie liegen. Was schwer ist. Malherbeau muss
Finger wie ein Schimpanse gehabt haben â ein Schimpanse auf Speed â, um bei
diesen ständigen Lagenwechseln die Griffe so schnell zu treffen. Ich beginne zu
spielen, was ich lese, und bin völlig gebannt davon, wie umwerfend dieses Stück
aus dem achtzehnten Jahrhundert auf diesem alten Instrument klingt.
Und dann, noch bevor ich mit der ersten Seite halb fertig
bin, sagt Dad: »Kannst du bitte aufhören? Ich versuche zu arbeiten.«
»Ich auch«, antworte ich gereizt.
Er dreht sich um. »Du solltest mit deiner Abschlussarbeit
anfangen, nicht Gitarre spielen.«
»Das ist meine Abschlussarbeit.« Oder, besser gesagt, wäre es,
wenn ich noch vorhätte, eine abzuliefern.
Sein Blick ist skeptisch. »Wirklich? Was ist deine
Prämisse?«, fragt er.
»Also ⦠ähm, im Grunde die, dass es ohne Amadé Malherbeau
Radiohead nicht gäbe«, antworte ich, in der Hoffnung damit Ruhe zu haben. Aber
nein.
»Warum Malherbeau? Was ist so besonders an ihm?« Er
vermittelt den Eindruck, als wäre er wirklich daran interessiert, was ich
denke. Was ungewöhnlich ist.
»Er hat eine Menge Regeln gebrochen«, erkläre ich. »Er
weigerte sich, gefällige Harmonien zu schreiben. Verwendete viele Moll-Akkorde.
Und Dissonanzen. Er hat angefangen, mit dem âºDiabolus in Musicaâ¹ herumzuspielen
und â¦Â«
»Mit dem was?«
»Dem âºDiabolus in Musicaâ¹. Dem Teufel in der Musik.«
»Was zum Teufel ist das denn?«
»Sehr witzig, Dad.«
Er lächelt über seinen lahmen Scherz und fügt dann hinzu:
»Nein, wirklich. Ich meine es ernst.«
»Das ist ein anderer Ausdruck für eine übermäÃige Quarte«,
sage ich.
»Und was ist eine übermäÃige Quarte?«
Ich zögere, bevor ich antworte. Weil ich misstrauisch bin.
Dieses plötzliche Interesse an Musik ist einfach unheimlich. Er führt etwas
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