Das Blut der Lilie
Armen litten, wie sie es immer getan
hatten. Und auch die Reichen mussten leiden. Viele starben auf der Guillotine.
Aber keiner litt mehr als dieses arme, unschuldige Kind.«
G. starrt eine Weile in sein Weinglas und fährt dann fort:
»Ich habe die letzten dreiÃig Jahre meines Lebens damit verbracht, das alles
verstehen zu wollen. Begreifen zu wollen, wie der Idealismus, der eine Monarchie
stürzte, der Begriffe wie Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit hervorbrachte, zu solcher Grausamkeit
entarten konnte. Aber nach dreiÃig Jahren des Forschens und Schreibens habe ich
noch immer keine Erklärung dafür.«
»Na also. Schluss damit. Wir sind durch mit diesem Thema«,
verkündet Lili. »Du willst eine Erklärung, Guillaume? Ich hab eine für dich:
Das meiste von dem Chaos, das man Geschichte nennt, rührt daher, dass sich
Könige und Präsidenten nicht mit einem guten Huhn und einem guten Laib Brot
zufriedengeben können. Wie viel besser wären wir alle dran, wenn sieâs könnten.«
G. schenkt Wein nach. Wir essen. Lilis Essen â gebratenes
Huhn, knuspriges Kartoffelgratin, Karotten mit Petersilie und dazu frisches
Brot â ist köstlich, aber ich kriege kaum etwas runter. Ich möchte hier weg und
ins Bett, damit mich der Schmerz im Geheimen zerreiÃen kann.
Während des Essens reden G., Dad und Lili über Termine. G.
wird in den nächsten paar Tagen nicht hier sein. Er fliegt morgen nach Belgien,
dann nach Deutschland â vorausgesetzt die Fluglinien werden nicht bestreikt â,
um sich mit zwei anderen Genetikern zu treffen, die an den Tests beteiligt
sind. Er erklärt Dad, dass es Treffen mit Mitgliedern des Mémorial de France
und Pressekonferenzen gebe und dass er überall anwesend sein müsse.
Zusätzlich zu den DNA -Tests, die
er leitet, zieht Dad auch noch seine Superstar-Nummer durch, während er hier
ist â er hält Vorlesungen an der Sorbonne, geht zu einem Essen mit dem
Präsidenten und trifft sich mit Finanziers, die sein nächstes Projekt
unterstützen wollen.
»Und was machst du?«, fragt mich G.
Dad antwortet für mich. »Andi arbeitet an einem Entwurf für
ihre Abschlussarbeit.«
»Ãber welches Thema?«, fragt G.
»André Malherbeau«, antworte ich und schiebe ein Stück Huhn
auf meinem Teller herum.
»Malherbeau! Warum hast du das nicht gleich gesagt?« G.
springt auf, um in einem Bücherregal herumzukramen. »Ich hab ein paar Bücher
über ihn. Natürlich kann ich jetzt wieder keins finden. Ah! Da ist eins. Du
solltest sein Haus in der Nähe des Bois de Bologne besuchen. Es gehört dem
Konservatorium und wird für Kammerkonzerte genutzt. Dort hängt auch ein
wundervolles Porträt von ihm. Und ich glaube, die Abélard-Bibliothek hat seinen
schriftlichen Nachlass einschlieÃlich einiger Originalkompositionen.«
Er reicht mir ein Buch und setzt sich wieder. Ich danke ihm,
dann fahre ich fort, mein Essen nicht zu essen. Lili erklärt uns, dass sie fast
jeden Tag unterrichten wird. Sie gibt Kurse an der Kunstakademie in Bourges,
die morgen beginnen, und Ende der Woche welche in Paris. Nach Bourges sei es
ziemlich weit, deshalb wohne sie dort im Haus einer Freundin.
»Und weil wir gerade von Gästezimmern sprechen«, sagt sie.
»Ich bin sicher, du möchtest dich hinlegen, Andi.«
Endlich. Ich mache Anstalten, das Geschirr abzuräumen, aber
das lässt sie nicht zu.
»Lass stehen. G. hilft mir später. Damit er wenigstens ein
Mal am Tag was Nützliches tut«, fügt sie hinzu. »Ich zeige dir jetzt dein
Zimmer.«
Ich nehme meine Tasche und meinen Gitarrenkoffer und folge
ihr ans andere Ende des Lofts. Dort befinden sich zwei Räume und ein Badezimmer,
die mit frisch verputzten, aber noch ungestrichenen Wänden vom Rest des Lofts
abgetrennt sind. In meinem Zimmer gibt es ein groÃes Fenster, eine Matratze am
Boden und als Nachttisch eine Obstkiste.
»Nicht besonders luxuriös, fürchte ich. Wir haben noch eine
Menge zu tun in diesem Haus«, sagt Lili. »Aber das Bett ist bequem.«
»Es ist wunderbar, Lili. Wirklich«, antworte ich. Ich bin so
müde, dass ich auf der Stelle einschlafen könnte.
Sie erklärt mir, dass sie zwei Schlüsselbunde auf den Tisch
legen wird, einen für mich und einen für Dad, und dass ich kommen und gehen
könne, wie ich wolle. Ich bedanke
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