Das Blut der Lilie
mich, aber sie winkt ab. Bevor sie geht,
nimmt sie meine Hand.
»Du bist ja nur noch ein Schatten, Andi«, sagt sie. »Von dir
ist ja fast nichts mehr übrig.«
Ich sehe sie an. Ich möchte etwas sagen, bringe aber kein
Wort heraus.
»Lili! Wo sind meine Malherbeau-Bücher?«, bellt G.
Lili drückt meine Hand. »Komm zurück zu uns«, sagt sie. Dann
ist sie fort.
Ich schlieÃe die Tür, schalte das Licht aus und lege mich
aufs Bett. Durchs Fenster sehe ich in den Nachthimmel hinaus und suche nach
Sternen. Aber es gibt keine. Nur ein paar Schneeflocken wirbeln durch die Luft.
Ich sollte aufstehen. Meine Zähne putzen. Pinkeln. Meine Pillen nehmen. Aber
das tue ich nicht. Ich bin zu müde. Ich schlieÃe die Augen und hoffe auf
Schlaf, aber vor mir tauchen Bilder auf, Bilder eines kleinen, traurigen
Herzens. Eines kleinen, verängstigten Gesichts.
Paris. Was für eine tolle Idee. Ein Tapetenwechsel, sagte Dad. Der lenkt dich vielleicht
ein bisschen ab.
Dann lache ich, bis ich weine. Und dann weine ich, bis ich
einschlafe.
  13 Â
Beim Aufwachen klappert alles an mir.
Ich bin in Klamotten eingeschlafen, mit meinem ganzen Metall
am Leib. Meine Ohrringe haben sich in meine Wange gegraben. Meine Armreife
haben sich in meinen Haaren verheddert. Mein Handy in der Hosentasche drückt an
meinen Hintern. Die FüÃe tun mir weh in den Stiefeln.
Auch innerlich fühle ich mich ziemlich klapperig. Letzten
Abend habe ich vergessen meine Pillen zu nehmen, was wirklich blöd von mir war.
Ich stehe auf, gehe ins Bad, schlucke zwei Qwells, dann noch
eine, und spüle sie mit Leitungswasser aus der hohlen Hand runter. Ich sehe auf
die Uhr â fast Mittag â und mache mich auf die Suche nach Kaffee.
Dad sitzt am Esstisch und spricht in G.s Telefon. Er hat den
Lautsprecher angestellt, weil er sich so unterhalten, seiner Assistentin
Anweisungen geben, Kaffee trinken und gleichzeitig eine Dissertation lesen
kann. Ich nicke ihm zu. Er nickt zurück.
Auf dem Tisch liegen die Schlüssel und eine Nachricht von
Lili, in der sie uns mitteilt, dass sie heute Abend in Bourges bleiben wird,
und wo die nächsten Métro-Stationen, der nächste Gemüsemarkt, der Bäcker und
der Käseladen sind. In der Nähe ist eigentlich gar nichts. Von hier aus ist
alles kilometerweit entfernt.
Ich gehe in die Küche und bin hochbeglückt, dass in der Kanne
noch Kaffee ist. Ich gieÃe mir eine groÃe Tasse ein, trinke sie aus und seufze
wohlig auf, nachdem sich die Welt von Schwarz-Weià in Technicolor verwandelt
hat. Gerade, als ich nach einem Croissant greife, klingelt mein Handy.
»Hey.«
»Vijay? Wo bist du? Der Empfang ist ja hervorragend.«
»Auf meinem Dach. Mich verstecken.«
»Vor wem?«
»Der Viet-Mom. Vor wem sonst? Wo bist du? Ich war heute
Morgen bei dir zu Hause, aber keiner war da.«
»Ich bin in Paris.«
»Wow. Cool. Hey, falls du dich immer noch umbringen willst,
gibtâs keinen besseren Ort dafür. Du hast Notre-Dame, den Eiffelturm, die
vielen Brücken â¦Â«
»Du hast davon gehört?«, frage ich peinlich berührt.
»Die ganze Klasse weià es. Vielleicht sogar die ganze Schule.
Dank Arden.«
»Was hat sie gesagt?«
»Dass du in Nick verknallt bist, es immer schon warst. Dass
du dich an ihn rangeschmissen hast. Aber er sei total verliebt in sie und habe
dir eine Abfuhr erteilt, was dich so wahnsinnig gemacht hat, dass du von seinem
Hausdach springen wolltest.«
» Was? Aber so hat sich das Ganze überhaupt nicht abgespielt.«
»Egal. Arden ist ein Genie, wenn es um Bosheit geht.«
»Na ja, mag sein.«
»Jetzt kannst duâs nicht mehr tun.«
»Was?«
»Dich umbringen. Wenn doch, heimst Arden die Lorbeeren dafür
ein.«
»Wow. Daran hab ich noch gar nicht gedacht. Du hast recht.«
Im Hintergrund höre ich
eine andere Stimme. » Vijay? Viii-jay?«
»Oh nein«, sagt Vijay.
»Vijay?
Vijay Gupta, bist du dort oben?«
»Ich muss los. Es ist der Momsun. Ach übrigens, weil wir
gerade davon reden ⦠wo ist denn deine Mom? Mit dir gefahren? Wie hast du sie
aus dem Haus gekriegt?«
»Nein, sie ist nicht hier.« Ich sage es ihm. »Sie ist ⦠sie
ist in einer Klinik, V.«
»Einer Klinik? Was ist passiert? Ist sie okay?«
»Nein. In einer
geschlossenen Anstalt. Dad hat sie
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