Das Blut der Lilie
Alter von zehn Jahren, starb Louis
Charles. Genau wie Robespierre und seine Nachfolger es beabsichtigt hatten. Er
hätte das Kind nicht töten lassen können, weil das ein sehr schlechtes Licht
auf ihn geworfen hätte â selbst auf einen Schlächter wie ihn. Aber am Leben
hätte er es auch nicht lassen können. Als offizielle Todesursache gab man
Knochentuberkulose an. Es wurde eine Autopsie durchgeführt, und nachdem der
Körper geöffnet worden war, stahl Pelletan, einer der Ãrzte, das Herz des
Kindes. Er wickelte es in ein Taschentuch und schmuggelte es aus dem Gefängnis
und ⦠ah! Da ist es ja.«
G. zieht ein Foto aus dem Stapel und reicht es mir. »Das ist
er â Louis Charles. Das Porträt wurde gemalt, als er acht Jahre war. Während
seine Familie im Temple eingesperrt war. Das sieht man, nicht? Man erkennt die
Unsicherheit in seinem Gesicht, die Erschöpfung â¦Â«
Ich antworte nicht. Ich sage gar nichts. Ich kann nicht. Weil
der Junge auf dem Foto genauso aussieht wie Truman. Er hatte den gleichen
Gesichtsausdruck an jenem Tag. Als ich ihm zum letzen Mal Lebewohl sagte. Es
ist alles in Ordnung, Tru, habe ich gesagt, alles in Ordnung, dir passiert
nichts.
Ich schiebe das Foto beiseite, aber es ist zu spät. Der
Schmerz trifft mich so hart, dass ich meine, in eine Grube voller Glasscherben
gefallen zu sein.
»Also, wie ich schon sagte, Dr. Pelletan nahm das Herz und â¦Â«
»Gütiger Himmel, redest du immer noch über das Herz?«,
unterbricht ihn Lili und stellt geräuschvoll eine Platte mit gebratenem Huhn
ab.
»⦠schmuggelte es aus dem Temple.«
»Guillaume, verteil doch bitte das Huhn auf die Teller«,
weist sie ihn knapp an.
»Man glaubte, er wollte â¦Â«
»Guillaume!«, zischt Lili. Sie sagt noch mehr. Ich verstehe
nicht jedes Wort, weil ich mich so sehr darauf konzentriere, nicht die Fassung
zu verlieren, aber ich kriege mit, dass Guillaume mir die Fotos nicht hätte
zeigen dürfen. Nicht ausgerechnet mir. Ob er damit nicht hätte warten können?
Ein toter Junge! Dazu noch im selben Alter wie Truman. Was er sich dabei denn
gedacht habe? Warum er immer über Tote reden müsse? Ob ich denn nicht schon
genug mit dem Tod zu tun gehabt hätte? Er solle mich doch ansehen! Sähe ich
denn nicht selbst schon wie ein Leichnam aus. Ob er das nicht bemerken würde?
Dad sieht mich an, während Lili G. ausschimpft. In seinen Augen
ist nicht wie üblich Ãrger und Enttäuschung zu lesen, sondern nur Traurigkeit.
»Tut mir leid«, sagt er leise. »Ich wollte dir nichts von den Tests sagen. Auch
die Bilder solltest du nicht sehen. Ich wollte dich nicht aufregen.«
»Warum hast du mich dann gezwungen, mit hierher zu kommen?«,
frage ich ihn.
Ich spüre, wie sich eine Hand auf die meine legt. G.s Hand.
»Tut mir leid, Andi. Ich hätte dir diese Geschichte nicht erzählen sollen. Ich
lasse mich so leicht von meinen Leidenschaften mitreiÃen«, sagt er.
»Ist schon gut, G.«, antworte ich. Was sollte ich sonst wohl
sagen? Aber es ist nicht gut. Ich werfe noch einmal einen raschen Blick auf das
Foto, bevor Lili es vom Tisch nimmt, und kann an nichts anderes mehr denken als
an einen kleinen Jungen, der vor zweihundert Jahren frierend, hungrig,
verängstigt und allein im Dunkeln saÃ. Wegen eines Verrückten namens Robespierre.
Und das lässt mich an einen anderen kleinen Jungen denken, der in den grauen
Winterhimmel starrt, während er auf einer Brooklyner StraÃe verblutet. Wegen
eines anderen Verrückten.
G. redet immer noch. »Es ist nur, weil ich Antworten finden
will, deswegen verfolge ich die Geschichte so störrisch«, sagt er. »Ich möchte
herauskriegen, warum. Ich möchte die wichtigste Lektion verstehen, die uns die
Geschichte lehren kann.«
»Die da lautet, dass die Welt totale ScheiÃe ist«, sage ich.
Voller Bitterkeit.
Dad verschluckt sich an seinem Wein. »Mein Gott, Andi!
Entschuldige dich sofort. Du bist hier Gast und redest nicht so mit â¦Â«
»Nein, Lewis«, wirft G. ein. »Sie braucht sich nicht zu
entschuldigen. Sie hat recht. 1789, am Anfang der Revolution, gab es so viel
Hoffnung, eine so groÃe Aufbruchsstimmung. Und als sie verflogen war, nach den
Aufständen, den Hinrichtungen, den Massakern und Kriegen, blieb auÃer Blut und
Tränen so gut wie gar nichts übrig. Die
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