Das Blut der Lilie
unterstellen,
bestimmte Absichten zu verfolgen. Wir wissen, dass Dr. Alpers Methodik präzise
ist und seine Ergebnisse nicht angezweifelt werden können.«
»Dr. Alpers, warum wurde so lange damit gewartet, das Herz zu
untersuchen?«, fragt Jean-Paul. »Es wurde Mitte der Siebzigerjahre dem Mémorial
übergeben, aber die Tests laufen erst jetzt an.«
»Viele Jahre zögerte der Mémorial, aus dem Herzen
Gewebeproben entnehmen zu lassen«, sagt Dad. »Es gab Bedenken hinsichtlich
seines fragilen Zustands und der Genauigkeit der Resultate. Doch seit den
Siebzigerjahren sind enorme Fortschritte gemacht worden bei der Durchführung
von DNA -Analysen, und der Mémorial vertraut der
Technologie inzwischen.«
»An dem Test nehmen noch zwei andere Genetiker teil, nicht
wahr?«
»Ja«, antwortet Dad. »Ich leite die Tests in Frankreich,
Professor Jean-Jaques Cassiman in Belgien und Professor Bernhard Brinkmann in
Deutschland. Mit drei Testreihen aus drei Top-Laboren hoffen wir, Resultate
liefern zu können, die absolut unanfechtbar sind.«
»Faszinierend«, sagt Jean-Paul. Er dreht sich in die Kamera.
»Die Resultate der DNA -Tests werden in den
kommenden Wochen in Saint-Denis veröffentlicht, und wenn es so weit ist, wird Agenda dabei
sein. Wird das Herz seine Geheimnisse preisgeben? Stammt es tatsächlich von
Louis Charles, dem jungen Prinzen? Wichtige Fragen! Schalten Sie wieder ein,
wenn Sie die Antwort wissen wollen. Vielen Dank, Professor Lenôtre und Dr.
Alpers.«
Lili schaltet den Fernseher aus.
»Ich wusste nicht, dass es so viele Zweifel gibt«, sage ich.
»Woran?«
»An der Identität des Herzens. Mir war nicht klar, dass es
vielleicht gar nicht von Louis Charles stammen könnte. Ich meine, G. hat sich
so überzeugt angehört. Aber ich hätte nicht so gutgläubig sein sollen. Andernfalls
wäre doch mein Vater nicht hier, stimmtâs?«
»Nein, das wäre er nicht«, antwortet Lili. Sie trinkt einen
Schluck Wein. »Du hast recht, was G. anbelangt â er hegt keinen Zweifel. Er ist
sich ganz sicher, dass es Louis Charlesâ Herz ist. Er war jahrzehntelang besessen
davon und will jetzt eine endgültige Antwort. Was mich betrifft, bin ich nicht
so sicher, ob ich überhaupt eine Antwort möchte. Vielleicht sollte das Herz
sein Geheimnis bewahren. Manche Dinge sind so schmerzlich, dass man sie lieber
auf sich beruhen lassen sollte.«
Dann wechselt sie das Thema. Sie erkundigt sich, wie es mir
geht, und wie meine Untersuchungen für meine Abschlussarbeit vorankommen. »Was
macht der schwer greifbare Monsieur Malherbeau?«, fragt sie.
Ich schneide eine Grimasse. »Schwer zu greifen«, antworte
ich.
»Gib nicht auf. Und vergiss nicht, sein Haus zu besuchen. G.
sagt, das Porträt sei ganz verblüffend.«
Ich denke über meinen Tag im Archiv nach und dass ich nichts
zuwege gebracht habe, weil ich mich so sehr in dem Tagebuch verloren habe. Und
fast hätte ich ihr davon erzählt, tue es aber nicht. Ich habe Vijay davon
erzählt, sonst niemandem. Ich möchte Alex niemandem zeigen. Sie mit niemandem
teilen. Aus Angst, man könnte sie mir wegnehmen. In eine säurefreie Schachtel
stecken und mich zwingen, weiÃe Handschuhe zu tragen, wenn ich sie berühre.
Ich werde Lili davon erzählen. Und G. Aber noch nicht jetzt.
Ich bringe unsere Teller in die Küche und wasche sie ab. Kurz
darauf ruft Lili, dass sie nach unten in ihr Atelier zum Arbeiten gehe und dass
ich ihretwegen nicht aufbleiben soll. Nachdem ich mit der Küche fertig bin,
gehe ich zum Esstisch. Der Gitarrenkoffer liegt geöffnet darauf, so wie ich ihn
gestern zurückgelassen hatte. Ich will ihn schlieÃen, nehme dann aber die Gitarre
heraus. Es gibt mir immer noch einen Kick, sie einfach nur festzuhalten. Ich
streiche mit der Hand über die schönen Rundungen und schlage ein paar Saiten
an.
G.s Uhr schlägt â acht Mal. Ich weiÃ, dass ich aufhören muss,
alles vor mir herzuschieben â ich habe immer noch eine Gliederung und eine
Einleitung zu schreiben â, also lege ich die Gitarre in den Koffer zurück,
nehme eines von G.s Büchern über Malherbeau und mache mich an die Arbeit.
Vier Stunden später habe ich das Buch durchgelesen und meine
Augen sind müde, aber ich habe gutes Material für meine Einleitung gefunden.
Bis jetzt habe ich drei von G.s
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