Das Blut der Lilie
als ihn mein Fuà am Kopf erwischt,
und Funken sprühen, als sein Schürhaken nicht mich, sondern die Mauer trifft.
Ich hieve mich hinüber und lande wieder am Boden. Schmerz schieÃt mir in Wellen
durch das verletzte Bein. Ich schwanke und falle hin. Ich möchte mich
übergeben, höre aber die Wachen wieder. Ich höre sie rufen, höre ihre Flüche
und Verwünschungen, und weiÃ, wenn sie mich fangen, gibt es keine Guillotine
für mich, keinen schnellen Tod, sondern nur einen Strick am nächsten Laternenpfahl.
Ich stehe auf und haste los. Nicht zum Palais Royal, wo
ich Alexandre heiÃe und in Reithosen herumspaziere, sondern nach Westen zur
Kirche von Saint-Roch und der Krypta der Valois. Dort gibt es einen Gang von
der Gruft hinab in die Katakomben. Der Herzog von Orléans hat mir davon
erzählt, bevor er starb. Er meinte, der Gang würde sich eines Tages als
nützlich erweisen. Ich habe eine Lampe dort versteckt. Das ewige Licht, das für
die Valois brennt, wird die Flamme sein, mit der ich es entzünde.
In den Katakomben befolge ich eine Regel â Augen zu Boden.
Aber manchmal denke ich kurz nicht daran und bin versucht zu schreien bei dem
Anblick der verschrumpelten, noch immer angstvoll geballten Fäuste, der
blutverschmierten Hosen und verwesenden, an den Wänden gestapelten Köpfe. Doch
das tue ich nicht, denn wenn ich anfinge damit, könnte ich sicher nicht mehr
aufhören.
Ich habe immer eine Decke dort, und ein groÃes Stück
Käse. Auch Wein. Den pflegte ich einst hinunterzustürzen, wenn die Toten zu mir
sprachen, damit ich mir einreden konnte, ich sei nur betrunken, nicht verrückt.
Jetzt trinke ich ihn langsamer.
Ich werde ein oder zwei Nächte hier bleiben und meinen
Bericht schreiben, etwas anderes kann ich kaum tun. Von jetzt an wird es noch
schwieriger werden für mich. Sie werden mir auflauern, und mit meinem
verletzten Bein kann ich weder klettern noch schnell rennen, aber beides ist
nötig, denn sie dürfen mich nicht erwischen. Nicht heute Nacht. Nicht morgen.
Niemals.
Denn in einer kleinen dunklen Zelle liegt ein
gebrochenes Kind auf einem schmutzigen Lager und starrt zu einem Fenster hoch
oben hinauf.
Auch dieser Junge wartet auf mich.
Und ich â die ich bei allem gescheitert bin und beinahe
jeden im Stich gelassen habe â will und darf ihn nicht enttäuschen.
Ich blättere zum nächsten Eintrag, aber die Seiten sind leer.
Doch zwischen ihnen klemmt ein weiterer Zeitungsausschnitt:
Grüner Mann fast gefasst
Paris,
13. Floréal III
â Letzte Nacht wurde ein
Hauptmann der Pariser Garde schwer verletzt bei dem Versuch, eine Person
festzunehmen, die er für den Grünen Mann hielt.
Hauptmann Henri Dupin griff eine verdächtig aussehende Frau
auf, die sich von der Rue de Berri entfernte, kurz nachdem dort eine Reihe
Feuerwerkskörper explodiert waren. Sie trug einen Korb bei sich, den Dupin
durchsuchte.
»Der Korb war leer, bis auf ein paar Zündschnüre. Diese, sowie
die Person selbst, rochen stark nach Schwefel«, sagte Dupin. »Als ich sie
festnahm, schlug sie mir mit einer Lampe ins Gesicht. Der Arzt fürchtet jetzt
um mein Augenlicht.«
Aufgrund der fast gelungenen Festnahme dieser gefährlichen
Frau vermuten nun viele, dass der Grüne Mann gar kein Mann, sondern in
Wirklichkeit eine Frau ist.
Zu der Attacke auf einen seiner Gardisten sagte General Bonaparte:
»Ich möchte der Stadt Paris versichern, dass ich alles in meiner Macht stehende
tue, um diese Wahnsinnige zu ergreifen, und ich appelliere an alle Bürger,
wachsam zu sein und jegliches verdächtige Verhalten zu melden.«
Kurz nach dieser Stellungnahme erhöhte Bonaparte den Preis
auf den Kopf des Grünes Mannes auf zweihundertfünfzig Francs.
4. Mai 1795
Jetzt halten sie mich für eine Frau und für wahnsinnig.
Das schreiben sie in den Flugblättern. Posaunen es auf die StraÃen hinaus.
Bonaparte hält Volksreden in der Nationalversammlung, stellt Vergleiche mit
Shakespeare an, in der Hoffnung von dessen GröÃe zu profitieren, und behauptet
lachend, da ich eine Irre sei, würde ich eines Nachts einfach in die Seine
springen und mich wie die verrückte Ophelia selbst ertränken. Wie brav von mir.
Die arme Ophelia. Sie war die klügste von allen,
weitaus mehr wert als ihr speichelleckerischer Vater, ihr dämlicher Bruder und
Prinz Zauderer zusammen. Sie
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