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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Büchern gelesen, zwei muss ich noch
durcharbeiten, doch im Moment kann ich keine einzige Zeile irgendeiner
tiefschürfenden Analyse über irgendwelche Akkorde, Couplets oder Achtelnoten
des Meisters mehr aufnehmen. Ich reibe mir die Augen, überlege, mir ein Glas
Wasser zu holen und Schluss zu machen für heute. Lili ist schon ins Bett
gegangen, und ich muss morgen früh aufstehen, um rechtzeitig ins Archiv zu
kommen und ernsthafte Fortschritte zu machen. Doch als ich die Augen wieder
öffne, sehe ich das Tagebuch aus meiner Tasche spitzen.
    Ich ziehe es heraus und drehe es in meinen Händen. Ich kann
sie spüren im Innern. Ich kann sie sehen – ein dünnes Mädchen in Reithosen. Das
auf dem Dorfplatz einen wilden Furztanz aufführt. Auf den Rasenflächen von
Versailles Räder schlägt. Eine Schar lachender, lärmender Kinder anführt.
    Was ist mit ihr passiert? Was ist schiefgelaufen?
    Was hat sie von einem Mädchen, das im Marmorhof im Kreis
herumwirbelte und von einer Zukunft auf der Bühne träumte, in einen Menschen
verwandelt, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt wurde, in einen Menschen, der
schrieb: Ich bin
siebzehn Jahre alt. Viel älter werde ich nicht werden.
    Möchte ich das wirklich herausfinden?
    Ich höre Lilis Stimme in meinem Kopf – … ich bin nicht so sicher, ob ich überhaupt
eine Antwort möchte … Manche Dinge sind so schmerzlich, dass man sie lieber auf
sich beruhen lassen sollte.
    Dann höre ich Alex’ Stimme. Sie ist lauter, stärker. Klapp diese Seiten nicht
zu. Lies weiter, ich bitte dich.
    Nur noch ein paar Einträge, sage ich mir. Zwei oder drei,
dann gehe ich ins Bett. Bestimmt.
    Â Â 32  

    1. Mai 1795
    Heute Abend wäre ich beinahe dran gewesen. Mein Gott,
sie hätten mich fast erwischt. Jetzt bin ich in Sicherheit, unter der Erde in
den Katakomben, niemand leistet mir Gesellschaft außer den Toten. Ich habe die
Blutung gestillt und die Wunde verbunden, kann aber nicht aufhören zu zittern,
denn in meinem Kopf höre ich sie immer noch. Ich höre ihre stampfenden Schritte
hinter mir, ihren röchelnden Atem und ihre geknurrten Flüche.
    Ich sagte, bleib stehen, du Miststück!, ruft die Wache.
Er packt mich hinten am Kleid und reißt mich an sich. Wer bist du? Wo sind
deine Papiere?
    Ich wohne in der Rue de Berri, sage ich. Ich mache
einen Botengang für meinen Herrn …
    Bevor ich ihn spüre, höre ich den Schmerz. Den Knall
seiner Hand auf meiner Wange.
    Deine Papiere!, brüllt er. Er nimmt meinen Korb, reißt
das Tuch weg. Die Kerze fällt klappernd auf den Boden. Danach flattern die
Zündschnüre heraus. Er hebt eine auf, schnuppert daran und sieht mich an.
Schwefel, sagt er. Mein Gott, du bist das – der Grüne Mann. Kein Mann
allerdings, sondern ein Mädchen.
    Lassen Sie mich gehen, flehe ich. Bitte. Ich bin alles,
was er hat.
    Aber er hört nicht zu. Niemand in Paris hört mehr zu.
Sie haben sich ihre Freiheitsmützen über die Ohren gezogen.
    Blanc! Aubertin!, ruft er über die Schulter. Hierher!
Schnell! Ich hab den …
    Er bringt seinen Satz nicht zu Ende. Er hat meinen
Korb, aber nicht meine Lampe. Schlecht für ihn. Ich hole aus und schlage sie
ihm an den Kopf. Sie zerspringt in einer Wolke aus Funken und Glas. Schreiend
taumelt er zurück.
    Hauptmann Dupin?, ruft ein Mann. Hauptmann Dupin, was
ist los?
    Zwei weitere Männer, schnell wie Schakale, setzen mir
nach. Ich renne. Die dunkle Straße hinunter, so schnell ich kann. Mein Leben
ist verloren, das weiß ich. Weiter vorn sehe ich ein offenes Tor, die angelehnte
Tür einer Kutscheneinfahrt. Ich laufe hindurch, schlage sie zu, lege den Riegel
vor. Ich renne durch den Hof, stolpere über einen Rechen, pralle polternd gegen
einen Waschzuber. Ein Hund bellt. Stimmen ertönen von der Straße.
    Ich drehe mich im Kreis, sitze in der Falle. Im Haus
geht ein Licht an, dessen Schein bis zu einer Mauer am Ende des Hofs reicht.
Ich renne darauf zu und will hinaufspringen. Ein Mann mit einem Schürhaken in
der Hand kommt hinter mir her. Ich springe erneut gegen die Wand. Und noch
einmal. Dann finden meine Füße Halt und ich klettere hinauf. Gerade als ich
mich hinüberschwingen will, trifft mich der Schürhaken am Bein. Zerfetzt meine
Röcke und gräbt sich in mein Fleisch. Ich schreie auf und trete mit dem anderen
Bein ins Dunkle.
    Der Mann jault auf,

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