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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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heraufgekommen
und zehn Minuten herumgewandert, bis ich ein kleines Schild entdeckte, das mir
den Weg wies. Dann musste ich einen Kreisverkehr überqueren und einen Park
umrunden, bis ich den Eingang fand. Die Warteschlange davor ist ziemlich lang.
Warum, weiß ich nicht. Schließlich liegt Jim Morrison nicht hier begraben.
Sondern drüben auf dem Père Lachaise.
    Ich reihe mich hinter einer redseligen amerikanischen Familie
ein. Sie sind zu fünft: Mom und Dad, zwei Mädchen im Teenageralter und ein
Junge von elf oder zwölf. Sie wirken wie frisch geschrubbt. Auf ihren
Turnschuhen ist nicht der kleinste Fleck. Sie haben Gürteltaschen,
Wasserflaschen, Karten und Energieriegel bei sich. Sie sehen aus, als wären sie
für alles gerüstet in ihren reißfesten, wasserabweisenden und winddichten
Jacken – Mr. und Mrs. Allzeitbereit und ihre Kinder.
    Der Sohn liest aus einem Reiseführer vor. Er erklärt dem Rest
der Familie, dass gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts die Stadtfriedhöfe
hoffnungslos überfüllt gewesen seien und die verwesenden Leichen ein ernsthaftes
Gesundheitsproblem dargestellt hätten. Krankheiten hätten sich auf den
Friedhöfen ausgebreitet und ebenso Ratten. Der Gestank sei fürchterlich
gewesen. Gelegentlich hätten die Friedhofsmauern nachgegeben und Leichen seien
auf die Straßen gequollen. Nach zunehmenden Beschwerden der Bürger hätten die
Behörden beschlossen, alle Gräber zu öffnen und die Toten in die aufgegebenen
Kalksteinbrüche unterhalb von Paris zu verlegen. Die Toten seien auf Karren
verladen und im Schutz der Nacht durch die Stadt transportiert worden. Die
Karren seien mit schwarzen Tüchern verhängt gewesen und von Priestern begleitet
worden, die auf dem Weg Totenmessen sangen.
    Der Junge redet immer weiter. Die Schlange bewegt sich nur
langsam voran. Ich nehme Alex’ Tagebuch heraus.
    7. Mai 1795
    Ich spürte Blicke auf mir.
    Aber von wem? Wenn ich mich umdrehte, konnte ich niemanden
entdecken.
    Es war fast Mitternacht. Nebelschwaden zogen durch die
leeren Höfe des Palais Royal. Ich hatte einem schwankenden Betrunkenen Voltaire
vorgespielt, aber der hatte es vorgezogen, sich statt meinen Dramen einer
anderen Vorstellung hinzugeben, die ihm von einer dürren Hure unter den
Kolonnaden geboten wurde.
    Die Uhr schlug Mitternacht. Ich beugte mich hinab, um
meine Mütze mit den Münzen aufzuheben, und da sah ich es – ein glänzendes
Goldstück unter all den matten und schmutzigen Sous. Ich blickte mich um. Der
Mann, der es hineingeworfen hatte, war sicher noch in der Nähe und winkte mir
lüstern grinsend zu. Das geschah bisweilen. Schauspielerinnen und Huren werden
oft miteinander verwechselt. Aber niemand war zu sehen.
    Ich dachte an all die Dinge, die ich mit der Münze
kaufen könnte – einen Teller gebratene Ente, Kaffee, Wollstrümpfe, eine Unze
Nelken zum Kauen. Bei diesen Gedanken hätte es mir warm werden sollen.
Stattdessen fröstelte ich. Ich steckte meinen Verdienst ein und eilte aus dem
Palais auf die Straßen hinaus.
    Ich ging ein Stück die Saint-Honoré hinunter und bog
dann in die Sainte-Anne ein. Der Nebel kräuselte sich in bleichen Schwaden um
die Straßenlaternen und dämpfte ihr Licht. Ich ging am Club der Jakobiner
vorbei, der nachts geschlossen war, und bog dann in eine schmale Gasse ein,
nicht breiter als ein Ochsenkarren.
    In dem Moment hörte ich Schritte. Im Dunkeln hinter
mir.
    Er war es. Der Mann, der mir den Louis d’or zugeworfen
hatte. Er will etwas für sein Geld. Dessen war ich mir sicher. Ich fuhr herum,
bereit, ihn in die Flucht zu schlagen.
    Wer ist da? Wer sind Sie?, rief ich.
    Keine Antwort.
    Es muss dieser Trunkenbold Benoît sein, der Küchenjunge
aus dem Foy, der mir einen Streich spielen will, sagte ich mir.
    Benoît?
    Erneut keine Antwort. Nur Schritte. Langsam. Ohne Eile.
In der Gewissheit, das Opfer bald zu stellen.
    Wenn nicht heute Nacht, dann morgen, sagten sie. Wenn
nicht morgen, dann bald.
    Trotz allem behielt er mich im Auge.
    Beobachtete mich.
    Wartete.
    Trotz allem.
    Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter. »Verdammte
Scheiße!«, schreie ich und hätte fast das Tagebuch fallen lassen.
    Es ist der Junge. Mister Allzeitbereit junior. Er sieht aus,
als hätte er einen solchen Ausdruck noch nie gehört.
    Â»Tut mir leid«, sage ich. »Was ist?«
    Â»Der will was von

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