Das Blut der Lilie
aus den Armen. Ein anderer drückte mich an eine Wand.
Hart schlug mein Kopf gegen die Mauer. Feuerwerkskörper explodierten darin.
Ich versuchte wegzurennen, wurde aber wieder gefasst
und erneut gegen die Mauer geschleudert. Einer der Gardisten packte mich am
Hals und drückte mich an die Wand. Ein anderer riss mein Hemd auf und griff
sich die Börse. Ganz und gar kein Junge, sagte er und sah mich lüstern an. Ich
trat nach ihm, aber er lachte bloÃ. Ich konnte nicht atmen. Meine Lunge platzte
fast. Das Feuerwerk in meinem Kopf verblasste. Alles wurde schwarz.
Und dann hörte ich eine andere Stimme. Seine Stimme.
Genug.
Der Gardist lieà mich los. Ich fiel auf die Knie und
schnappte nach Luft.
Komm mit mir, kleiner Spatz.
Ich blickte auf. Ein Mann stand vor mir. Sein schwarzes
Haar war zusammengebunden. An einem seiner Ohren baumelte ein goldener Ring.
Seine Augen hatten die Farbe der Mitternacht.
Und wenn ich nicht will?, erwiderte ich und versuchte,
nicht ängstlich zu klingen.
Dann kannst du mit ihnen â er deutete mit dem Kopf zu
den Gardisten â ins Sainte-Pélagie gehen.
Das Sainte-Pélagie war das schlimmste Gefängnis in
Paris. Ich sah den Gardisten an, der mein Hemd aufgerissen hatte. Aus seinem
lüsternen Blick schloss ich, dass es vorher einen kleinen Umweg geben würde.
Vier Gardisten und ich in irgendeiner schmutzigen Gasse.
Plötzlich vermeinte ich die Stimme meiner GroÃmutter zu
hören. Als Kind pflegte ich mich überall herumzutreiben. Eine StraÃe hinunter,
die nächste hinauf. Zum Fluss. Manchmal durch die Stadttore hinaus. Auf die
Felder. In den Wald.
Eines Tages wirst du mit dem Teufel spazierengehen,
mein Mädchen, hatte sie gesagt, und nie mehr zurückkommen.
Immer noch auf den Knien, griff ich nach meiner Tasche.
Lass sie liegen. Die brauchst du nicht mehr, sagte der
Herzog von Orléans.
Und ich wusste, dass dieser Tag gekommen war.
10. Mai 1795
Er nahm mich mit in seine Gemächer.
Gemächer? Es war ein Palast im Kleinen. Wie das Innere
der Lampe eines Dschinns. Ãberall fanden sich Gold und Spiegelglas, Kristall
und Silber und warfen das Licht von hundert Kerzen zurück. Myrrherauch hing in
der Luft. Aus der Ferne erklang Musik.
Er warf einem Diener seinen Umhang zu, bellte einem anderen
zu, Essen und Wein zu bringen. Er führte mich durch ein Foyer, so groà wie eine
Markthalle, vorbei an Salons, drei Bibliotheken und einem Ballsaal in einen
Speisesaal.
Ich stahl ein Silbermesser vom Tisch und schob es in
meinen Ãrmel, als er mir den Rücken zukehrte.
Du Närrin. Du wirst nicht viel erreichen in dieser
Welt, wenn du dich mit so wertloser Beute begnügst, sagte er.
Wie hatte er das sehen können? Er hatte sich abgewandt,
um eine Flasche zu entkorken.
Es ist bloà versilbert, fügte er hinzu.
Er nahm einen Salzstreuer und drehte ihn um. Ich
zitterte. Verstreutes Salz bedeutet Unglück. Für ihn, hoffte ich inständig. Er
warf mir ihn mir zu. Ich fing ihn auf.
Das ist Silber. Was man an dem feineren Glanz erkennt.
Er schenkte zwei Gläser Wein ein und reichte mir eines.
Ich streckte argwöhnisch die Hand danach aus, wie ein Kaninchen, das die Falle
wittert. SchlieÃlich trank ich und der Wein schmeckte wie Rubine, die auf
meiner Zunge schmolzen.
Setz dich, sagte er und zog einen Stuhl unter dem Tisch
hervor. Er lieà sich mir gegenüber nieder, nahe am Feuer, und löste seine
Halsbinde.
Es war fast Mitternacht, ganz Paris war schon im Bett,
doch keine fünf Minuten vergingen, bis ein alter Diener ein Festmahl auftrug.
Ich aà Austern, Langusten, Forellenmousse. Ein Teller mit Gartenammern wurde
gebracht. Der Herzog von Orléans nahm sich eine und biss den winzigen Kopf mit
den Zähnen ab. Ein Gericht aus Kürbissen mit Minze wurde aufgetragen. Zarte
Kartoffeln, nicht gröÃer als meine Handknöchel. Danach Lamm. Ein ganzer
Schlegel. Mit Rosmarin eingerieben und mit Salz bestreut. Der Koch hatte die
Fettschicht eingeritzt und Knoblauchstücke darunter geschoben. Das Fleisch
schmeckte so köstlich, dass mir die Tränen kamen.
Du bist hungrig, sagte der Herzog von Orléans und
beobachtete mich über den Tisch hinweg. Und doch ist der Hunger in deinem Magen
nichts im Vergleich zu dem in deiner Seele.
Ich hörte zu essen auf â ich, die ich halb verhungert
war â und starrte ihn an, verblüfft darüber, dass er in mein Inneres
Weitere Kostenlose Bücher