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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Ihnen«, antwortet er und deutet auf die
Straße. »Er winkt und hupt schon die ganze Zeit wie wild.«
    Ich blicke in die Richtung, in die er deutet, und sehe einen
verbeulten blauen Renault an der Ampel. Der Fahrer hängt zum Fenster heraus und
winkt mir zu. Es ist Virgil. Virgil mit seinen kaffeebraunen Augen, seinem
schönen Gesicht und der samtigen Stimme. Jules ist bei ihm. Ich ermahne mich,
cool zu bleiben, was aber schwer ist, wenn das Herz im Sechs-Achtel-Takt
schlägt.
    Â»Ich halte Ihnen den Platz frei«, sagt der Junge.
Wahrscheinlich ist er Pfadfinder oder so was.
    Ich laufe zur Straße, bin aber immer noch ein paar Meter von
dem Renault entfernt, als Virgil »Fang!« ruft und eine durchsichtige
Plastikhülle durch die Luft geschossen kommt. Ich hechte danach.
    Â»Was ist das?«, frage ich.
    Â»Der beste Rap, den du je gehört hast.«
    Â»Von dir?«, will ich idiotischerweise wissen. Virgil verdreht
die Augen. Jules prustet los.
    Â»Was ist mit meinem iPod?«, frage ich.
    Â»Den hab ich zu Hause vergessen. Ich bring ihn dir vorbei.
Versprochen. Machst du eine Tour durch die Katakomben?«
    Â»Ja.«
    Â»Cool«, sagt Virgil.
    Jules tut so, als würde er sich gruseln und gibt die
entsprechenden Laute von sich. Die Ampel schaltet auf Grün. Alle Autos fahren
an. Außer Virgils. Ein Hupkonzert bricht los.
    Â»Kommst du zu Rémy?«, schreit Jules gegen den Lärm an.
    Ich schüttle den Kopf. »Mein Flug geht am Sonntag«, rufe ich
zurück.
    Â»Dann cancel ihn«, brüllt er.
    Â»Das … das kann ich nicht.« Es soll sich eigentlich bedauernd
anhören, aber ich klinge total verzweifelt und sehe Virgil dabei an, nicht
Jules.
    Das Hupen wird noch heftiger. Der Typ hinter Virgil beugt
sich aus dem Fenster und sagt, er solle sich zum Teufel scheren. Virgil zeigt
ihm den Mittelfinger. Also fängt der Typ an zu fluchen. In meine Richtung. Ich
würde es vorziehen, nicht mitten in Paris an der Straße zu stehen, über ein
Hupkonzert hinwegzuschreien und verflucht zu werden. Ich möchte anderswo sein.
Wo es still und sicher ist. Mit Virgil. Ich möchte die Augen schließen und
seine sanfte, leise Stimme hören.
    Auch er sieht mich an. Und seine Augen scheinen zu sagen,
dass er dasselbe will. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass ich mir das so
sehr wünsche.
    Â»Ruf mich an«, sagt er. »Heute Abend, okay?« Ich nicke. Er
macht eine Faust und streckt sie heraus. Ich schlage dagegen. Jules winkt. Und
sie sind fort.
    Â»Danke«, sage ich zu dem Jungen, als ich mich wieder in die
Schlange einreihe. Sie hat sich nicht wirklich bewegt. Ich stecke die CD in meine Tasche, versuche meinen Herzschlag zu
beruhigen und lese weiter.
    Â Â 38  

    8. Mai 1795
    Ich begann zu stehlen. Hauptsächlich Essen. Oder Dinge,
die ich gegen Essen eintauschen konnte. Ich stahl wie eine Elster. Es war der
Herbst des Jahres 1790.
Meine Mutter war wieder krank. Wir hatten kein Geld.
    Ich stahl Kartoffeln von einem Händlerkarren. Würste
von einem Marktstand. Ich klaute Fächer und Schnupftabaksdosen von Laden- und
Kaffeehaustischen, die unachtsame Kunden liegengelassen hatten. Ich nahm
hektischen Damen Handschuhe und betrunkenen Männern Börsen ab. Ich schnappte
mir kleine Hunde und brachte sie gegen Belohnung wieder zurück. Ich schnitt
Pferden die Schwänze ab und verkaufte sie an Perückenmacher.
    Eines Abends war ich halb tot vor Hunger, sonst hätte
ich sie nicht angerührt – eine Börse, klein und braun, geschwollen wie eine
tote Ratte.
    Ich befand mich auf dem Heimweg vom Palais, Requisiten
in der Tasche und keinen Sou im Beutel, als ich sie sah. Ihr Besitzer
diskutierte mit einem Kellner. Er hatte sie auf den Tisch gelegt und ihr den
Rücken zugekehrt. Es sollte kein Problem sein, sie mir im Vorbeigehen zu
schnappen.
    Ich blickte mich um. Die Garden des Palais waren
nirgendwo zu sehen. Ich bewegte mich langsam vorwärts, zum ersten Mal zufrieden
mit dem, was ich war – eine arme Straßenschauspielerin, ein Gassenkind, dem
niemand besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als ich an dem Tisch vorbeikam,
griff ich mir die Börse. Seltsam schwer lag sie in meiner Hand, dann ließ ich
sie vorn in meinem Hemd verschwinden.
    Einen Moment später war ich bereits zur Hälfte die Kolonnade
hinuntergelaufen. Ich war schon fast auf der Straße, als sie mich packten.
Einer riss mir die Tasche

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