Das Blut der Lilie
gesehen
hatte. Er, der mir nichts bedeutete.
Du bist die StraÃenschauspielerin. Die Gefährtin des Dauphins.
Der Spatz in der Grotte. Du bist hoch hinauf geflogen, kleiner Spatz, aber tief
gefallen. Statt für den Prinzen von Frankreich zu spielen, führst du jetzt
Marionettenstücke für Pariser StraÃengören auf.
Mein Mund war voll, und ich konnte nur nicken.
Und wenn du mit den Marionetten fertig bist, kommst du
hierher und trägst Monologe aus Dramen vor. Ich habe dich viele Abende lang
beobachtet. Du bist ein Chamäleon, ein Mädchen, das sich in alles Mögliche
verwandeln kann â in einen Jungen, ein Ungeheuer, einen Bettler, einen Kobold.
Warum tust du das?
Ich schluckte mein Essen hinunter. Weil es viel
leichter ist, als Junge oder Ungeheuer in dieser Welt zurechtzukommen, denn als
Mädchen, antwortete ich.
Das stimmt, sagte der Herzog von Orléans. Aber das ist
nicht der Grund, warum du das tust.
Ich blickte weg. Also gut, sagte ich. Ich tue es für
Geld. Ich muss essen.
Wenn es nur Geld ist, was du willst, kannst du zehn Mal
mehr verdienen, wenn du schlüpfrige Lieder singst. Warum Shakespeare? Warum
Molière? Ich will eine ehrliche Antwort. Keine Lügen mehr oder ich gebe dich an
die Gardisten zurück. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und ging in dem Saal
umher.
Ich kann mir nicht helfen, antwortete ich. Die Worte â¦
Ah, die Worte ⦠Du bist verliebt in die Schönheit der
Worte.
Ja.
Wieder eine Lüge! Wenn du die Worte so liebtest,
würdest du selbst Stücke schreiben, nicht welche aufführen. Also raus mit der
Sprache! Es sind die Charaktere des Dichters, in die du verliebt bist, nicht in
seine Worte.
Ja, gab ich leise zu.
Weil â¦, half er mir auf die Sprünge.
Weil ich, wenn ich sie bin, nicht ich bin.
Der Herzog von Orléans nickte. Kein Spatz in der Gosse,
sagte er. Nicht verzweifelt und hungrig. Nicht schmutzig. Missachtet.
Fortgejagt. Vergessen.
Erneut brachte ich nichts heraus. Aber nicht wegen
meines vollen Mundes, sondern weil mir das Herz bis zum Hals schlug.
Noch mehr Essen wurde aufgetragen. Ich verschlang Honigmelone
und Käse auf Raukenkraut, mit Rum getränkte Kuchen und mit Nelken gewürzte
Schokolade, Marzipan, gezuckerte Pflaumen und kandierte Orangen. Wie ein
Ertrinkender, den man aus dem Meer gezogen hatte, war ich nur froh, gerettet
worden zu sein, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, warum.
Erst als ich so vollgestopft war, dass ich kaum mehr
atmen konnte, hörte ich auf zu essen. Erst da fiel mir auf, dass die Dienerschaft
fort war, die Musik nicht mehr spielte, die Kerzen tropften. Und da war es zu
spät, denn plötzlich stand er ganz nah bei mir. Hinter mir. So dicht, dass ich
das Lamm zwischen seinen Zähnen riechen konnte.
Obwohl ich Todesangst hatte, erinnerte ich mich an das
Messer. Das ich gestohlen hatte. Ich zog es aus dem Ãrmel, fuhr auf meinem
Stuhl herum und drückte es ihm an die Kehle.
Mit gröÃter Vorsicht und Bedachtsamkeit schob er meine
Hand weg und nahm mir das Messer ab. Dann riss er mich vom Stuhl hoch und
versetzte mir einen so heftigen Schlag, dass ich taumelte. Die weiÃen Hände des
Herzogs waren so kräftig wie die eines Gerbers. Ich stolperte rückwärts und
fiel zu Boden. Er riss mich hoch und zerrte mich zu einer Spiegelwand. Das
Messer hielt er noch immer in der Hand. Es glänzte silbern.
Ich schloss die Augen und hatte so groÃe Angst, dass
ich nicht einmal schreien konnte. Bei den Huren im Palais war er als Mann mit
abseitigen Vorlieben bekannt, und ich hatte schreckliche Furcht vor dem, was
auf mich zukommen würde. Ich spürte seine Hände in meinem Haar, ein kräftiges
Ziehen. Etwas hatte sich gelöst. War abgefallen. Verloren. Mein Leben.
Ich öffnete die Augen. Nirgendwo Blut. Keine Wunde.
Aber er hatte nicht meinen Hals durchtrennt, sondern mein Haar abgeschnitten.
Meine braunen Locken, die mir zuvor über den Rücken hinab gefallen waren,
reichten mir jetzt kaum mehr bis zu den Schultern. Er riss ein Stück Spitze von
einer Manschette und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz.
Als Nächstes machte er sich an den Knöpfen meiner Weste
zu schaffen und streifte sie mir ab. Dann riss er mein Hemd herunter. Meine
geflickten schmutzigen Reithosen kamen als Letztes an die Reihe. Er bat mich,
aus ihnen herauszusteigen, und beförderte sie mit einem FuÃtritt in die
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