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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Ecke.
    Nackt und hilflos stand ich vor dem Spiegel und
wartete, dass seine rohen Hände mich begrapschten würden. Stattdessen traf mich
ein Guss kalten Wassers. Ich schnappte nach Luft und blinzelte. Es tropfte mir
vom Kopf, vom Kinn und von den Schultern, und ich sah, dass er einen silbernen
Wasserkrug auf den Tisch zurückstellte. Dann nahm er eine Serviette und rieb
mir Gesicht und Hals damit ab, bis das Tuch schwarz war vor Schmutz.
    Als er fertig war, öffnete er einen Schrank, nahm ein
schmales Leinentuch heraus und band es um meine Brust, um meinen Busen flach zu
drücken. Dann reichte er mir ein Hemd aus feinem Baumwollstoff. Wollstrümpfe,
Kniehosen und eine blaue Weste mit Silberknöpfen.
    Er goss sich Wein nach, während ich mich anzog, und als
ich fertig war, ging er um mich herum, um die Verwandlung zu begutachten.
    Er lächelte, tauchte den Daumen in seinen Wein und
machte mir damit ein Kreuzzeichen auf die Stirn. In nomine Patris, et Filii et
Spiritus Sancti, sagte er spöttisch.
    Und dann begriff ich. Und das machte mir noch mehr Angst
als alles andere, was zuvor geschehen war.
    Ich sollte in dieser Nacht nicht sterben. Das wäre
einer Begnadigung gleichgekommen.
    Ich sollte wiedergeboren werden.
    Â Â 39  
    Â»Entschuldigen Sie bitte.«
    Ich blicke auf und sehe in ein Paar pechschwarzer Augen.
    Einen Moment lang packt mich Panik. Ich weiß nicht, wo ich bin. Wer ich bin.
    Â»Die Schlange … ist weitergerückt«, sagt ein Mann mit
italienischem Akzent.
    Â»Oh, ja, tatsächlich. Tut mir leid«, antworte ich.
    Selbst Familie Allzeitbereit ist zehn Meter vor mir. Ich
stecke das Tagebuch in meine Tasche und schließe die Lücke. Meine Gedanken sind
noch beim letzten Eintrag. Warum hat der Herzog von Orléans Alex in einen
Jungen verwandelt? Was zwang er sie zu tun, dass sie glaubte, Sterben wäre im
Vergleich dazu eine Gnade gewesen?
    Aber ich werde mich gedulden müssen, weil ich inzwischen nur
noch ein paar Meter vom Eingang in die Katakomben entfernt bin. Ein Schild an
der Tür nennt den Eintrittspreis, erklärt, dass man sich auf einen längeren
Fußmarsch einstellen solle und dass die Katakomben nichts für kleine Kinder und
Leute mit schwachen Nerven seien.
    Ich bezahle bei dem unfreundlichen Menschen an der Kasse,
gehe an dem Sicherheitsmann vorbei, zu einer steilen steinernen Wendeltreppe
und steige in ein kaltes, feuchtes Zwielicht hinab. Ein Typ vor mir macht einen
Scherz über Dantes Infernound behauptet, wir näherten uns dem ersten Ring der Hölle. Jemand
anderes entgegnet: »Nein, das ist der Louvre.« Alle lachen. Zu laut.
    Wir steigen weiter hinab, etwas über achtzig Stufen und
gelangen in einen Ausstellungsraum voller Schautafeln. Ich gehe herum und
informiere mich über den historischen Hintergrund. Offensichtlich gibt es kilometerlange
verlassene Tunnel im Untergrund von Paris – nicht sieben oder acht, sondern
hundertsechsundachtzig.
    Seit der Römerzeit bis ins achtzehnte Jahrhundert holten die
Leute Gips und Kalkstein unter der Stadt heraus und gruben so ein riesiges
Netzwerk aus Gängen und Räumen. So verwandelten sie den Untergrund in einen
Schweizer Käse, was auch der Grund ist, weshalb es im Zentrum von Paris keine
Wolkenkratzer gibt, denn der restliche Fels könnte ihr Gewicht nicht tragen.
Die meisten der Gänge sind gefährlich instabil und für die Öffentlichkeit gesperrt.
Die Ossuarien oder Friedhöfe, in die ich mich begebe, bestehen aus einer 780
Meter langen Strecke unter dem 14. Arrondissement und beherbergen die Überreste
von annähernd sechs Millionen Menschen. Sechs Millionen.
    Ich gehe weiter entlang der Schautafeln und lese über einige
Persönlichkeiten, deren Gebeine wahrscheinlich hierhergebracht wurden. Über
Madame Elizabeth, die Schwester des Königs. Über Madame de Pompadour, die
Mätresse von Ludwigs XV . Über Robespierre und Danton.
Über Rabelais, den Dichter, und Scaramouche, den Schauspieler. Ich wette,
nachts finden hier einige interessante Unterhaltungen statt.
    Ich lese weiter und erfahre, dass nach dem Sturz von
Robespierre seine Partei – die Jakobiner – einen herben Rückschlag erlitt.
Junge Adlige, die sein Regime überlebt hatten, setzten den Weißen Terror in
Gang und verprügelten Jakobiner auf der Straße. Sie veranstalteten Bälle für
die Hinterbliebenen, für Menschen, die ein

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