Das Blut der Unschuldigen: Thriller
erneut einen Blick. Sie schienen sich auf diese Weise wortlos verständigen zu können.
»Ja, wir geben Ihnen den jungen Aguirre mit. Das wird ihm helfen, sich an die Härten des Daseins zu gewöhnen. Wann könnten Sie aufbrechen?«, wollte Grillo wissen.
»Morgen, spätestens übermorgen. In zehn Tagen reise ich
nach Palästina, um meinen Sohn zu besuchen, und ich versichere Ihnen, dass ich diese Reise für nichts und niemanden aufzuschieben gedenke.«
»Das würden wir auch nicht von Ihnen erwarten. Uns ist bekannt, was Sie und Ihr Sohn durchgemacht haben. Wir sind Ihnen im Voraus für alles dankbar, was Sie herausbekommen können«, sagte Nevers.
»Ich denke, Ihr junger Mann sollte meine Schrift über Bruder Julián lesen und sich mit den wichtigsten Einzelheiten über die Katharer vertraut machen«, schlug Arnaud vor. »Wenn es Ihnen recht ist, fahre ich übermorgen mit ihm nach Carcassonne. Ich werde den Grafen anrufen und ihm unseren Besuch ankündigen. Hoffentlich gibt er mir keinen Korb. Ach ja, und natürlich empfiehlt es sich, dass Sie sich wie ein Student kleiden, damit Sie auch als mein Schüler durchgehen können.«
16
Während der Bahnfahrt wollte Ignacio Aguirre von Arnaud unbedingt die »wahre« Geschichte der Katharer hören.
»Mir ist klar, dass ich nicht genug darüber weiß«, gestand er.
Arnaud erfüllte seine Bitte. Später holte er dann einen Brief Davids hervor, den er am Vormittag bekommen hatte.
»Vor einigen Tagen war ich zum Abendessen bei Hamsas Eltern. Es gab mit Kräutern zubereiteten Hammel. Ich habe nie Besseres gegessen. Ich habe ihnen ungesäuertes Brot mitgebracht, das wir im Kibbuz backen, und einen Korb mit Obst aus unserer Plantage. Wir haben uns bis spät in den Abend hinein unterhalten. Die Leute sind überzeugt, dass wir sie vertreiben wollen, und haben gesagt, dass ihre politischen Führer sie aufgefordert haben, uns nicht zu trauen. Hamsas Vater sagt, er sei sicher, dass wir einander eines Tages als Feinde gegenüberstehen werden, aber ich habe darauf erwidert, dass das nicht zwangsläufig passieren muss und es ausschließlich auf uns ankommt, um das zu vermeiden. Gestern war Hamsa bei mir zum Essen im Kibbuz, und alle haben ihn freundlich empfangen. Anfangs war er ziemlich schüchtern, als er aber erst einmal das Zutrauen unserer Leute gewonnen hatte, fühlte er sich wie zu Hause. Er wundert sich, dass wir alles miteinander teilen und immer gemeinsam essen, niemand Privatbesitz hat und es keine gesellschaftlichen Unterschiede gibt. Hier tun alle die gleiche Arbeit, und ein Ingenieur ist genauso viel wert wie ein Landarbeiter. Ihm fällt auch auf, dass zwei Frauen jeden Tag alle kleinen Kinder gemeinsam in einem Haus beaufsichtigen, während die anderen Mütter arbeiten. Ich habe ihm jeden Winkel unseres Kibbuz gezeigt, und er hat mir gestanden, dass er bei uns mitunter Äpfel stibitzt, wenn wir nicht aufpassen. Darüber haben wir gelacht, und es hat ihn überrascht, dass ich mich nicht aufgeregt habe. Ich habe nur gesagt, er soll aufpassen, dass ihn niemand erwischt.
Wir beide unterscheiden uns eigentlich gar nicht besonders, auch wenn wir aus verschiedenen Welten kommen. Er sagt, dass man mein Arabisch manchmal schon ganz gut verstehen kann, aber ich muss zugeben, dass sein Französisch besser ist als mein
Arabisch. Er ist sehr klug und wirklich mein bester Freund. Bestimmt würde er Dir gefallen. Ich wünsche mir so sehr, dass Du kommst. Man wird Dich mit offenen Armen empfangen, und ich bin sicher, dass Dich das Leben im Kibbuz angenehm überraschen wird – es ist der wahre Sozialismus. Ach ja, Hamsas Eltern haben gesagt, dass sie Dich zum Abendessen einladen …«
Arnaud merkte, dass im Bericht über Davids Alltagsleben durchaus die Rede von Schwierigkeiten und Entbehrungen war, aber soweit sich das den Briefen entnehmen ließ, schien sein Sohn glücklich zu sein.
»Gute Nachrichten?«, erkundigte sich der junge Jesuit.
»Es ist ein Brief von meinem Sohn. Es geht ihm gut.«
»Ist das der, von dem Sie gesprochen haben – der in Palästina lebt?«
»Ja. Er ist Jude, seine Mutter war Jüdin.«
Er sagte es in so trotzigem Ton, dass Ignacio Aguirre errötete.
»Uns ist bekannt, was Sie durchgemacht haben«, sagte er nach einer Weile.
»Sie haben wohl Erkundigungen über mich eingezogen?«, fragte Arnaud neugierig. Schon als Nevers das Thema angesprochen hatte, hatte er sich insgeheim gefragt, woher der Mann das wissen mochte.
»Aber nein!
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