Das Blut der Unschuldigen: Thriller
zurück.
Über eine Stunde verging, bis er mit Fernando zurückkehrte, der vor dem grellen Licht die Augen schloss und sich auf einen
dienenden Bruder stützen musste, weil er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er war so abgemagert, dass seine Knochen hervorstanden, sein Haar war wirr, und die Lumpen, die an ihm herabhingen, strömten einen ekelhaften Geruch aus.
»Mutter, Ihr seid gekommen!«
Während Doña María auf ihn zutrat, schossen ihr bei seinem elenden Anblick die Tränen in die Augen.
»So also behandelt Ihr Eure Brüder!«, fuhr sie den Komtur empört an. »Noch nie habe ich den Teufel so nahe gesehen wie heute!«
Fernando, der sich an die Wand gelehnt hatte, fürchtete, sie werde den Komtur verärgern. Doch schon hatte sie sich wieder in der Hand und fuhr mit eisiger Stimme fort: »Schickt um Leute, die meinem Sohn helfen, sich zu waschen, und sorgt dafür, dass er Kleidung und zu essen bekommt. Ebenso verfahrt mit den anderen. Wenn sie bereit sind, sollen sie in diesen Raum kommen. Von hier aus werden wir aufbrechen.«
Als sie wieder allein war, konnte sie ihrer Ermattung nicht länger widerstehen und setzte sich ohne Umstände auf den Sessel des Komturs. Als Schritte ertönten, kam sie wieder zu sich und wusste weder, ob sie geschlafen hatte, noch, wie viel Zeit vergangen war.
Alle freigelassenen Templer kamen gewaschen und in frischer Kleidung herein. Da keiner allein gehen konnte und sich alle auf dienende Brüder stützen mussten, fragte sich Doña María, ob sie überhaupt imstande sein würden, ein Pferd zu besteigen und sich im Sattel zu halten. Trotz ihrer Zweifel beschloss sie, ihr Glück nicht unnötig auf die Probe zu stellen und die Templerburg so bald wie möglich zu verlassen, damit sie in Sicherheit waren.
»Die Pferde und die Maultiere mit Proviant und Waffen stehen
bereit. Hier sind die Geleit- und Kreditbriefe, deren sie zur Einschiffung für die Fahrt ins Heilige Land bedürfen.«
Doña María nahm die Dokumente an sich. Ein Blick auf das Gesicht des Komturs zeigte ihr, dass er sein Wort halten würde, so zuwider ihm das auch sein mochte.
Sie wechselten keine weiteren Worte miteinander. Mit einer Handbewegung gab Doña María den Templern das Zeichen zum Aufbruch. Die Männer hatten bisher kein Wort herausgebracht, obwohl sie sich vermutlich erstaunt fragten, was da geschah. Zu ihrer großen Verblüffung hatte man sie aus völliger Dunkelheit und Stille herausgeholt, gewaschen, frisch gekleidet und ihnen dann, als wäre es das Natürlichste von der Welt, den Befehl erteilt, erneut im Heiligen Land gegen die Sarazenen zu kämpfen. All das schien auf jene entschlossen wirkende abgemagerte Frau mit dem durchdringenden Blick zurückzugehen, die Fernando so ähnlich sah.
Sie verließen die Burg unter Führung zweier dienender Brüder, die man ihnen ebenso beigegeben hatte wie fünf Schildknappen, die über den plötzlichen Auftrag genauso erstaunt waren wie die Templer selbst. Doch nicht einer der Männer hatte gewagt, den Komtur zu fragen, was es mit diesem Befehl auf sich hatte. Sie hatten einfach gehorcht, wie es ihr Gelübde verlangte.
Als der kleine Trupp ein gutes Stück Weg zwischen sich und die Burg gelegt hatte, gebot Doña María Halt. Sie saß ab und forderte die Tempelritter auf, sich auszuruhen, während sie mit ihrem Sohn sprach. Diesmal würde der Abschied endgültig sein.
»Fernando, mein Junge, ich bitte dich um Verzeihung für das Leiden, das ich dir verursacht habe.«
»Ihr tragt daran keine Schuld, Mutter«, brachte er heraus.
»Mir war von vornherein klar, dass man mich bestrafen würde, als ich mich bereit erklärte, gegen die Ordensregel zu verstoßen. Ihr habt mich nicht dazu gezwungen.«
»Doch, das habe ich! Jede Sekunde deines Leidens wie dessen deiner Gefährten lastet auf meinem Gewissen. Vergib mir. Ich kann ohne deine Verzeihung nicht aus der Welt scheiden.«
»Mutter, ich habe Euch nichts zu verzeihen. Ich weiß nicht, auf welche Weise Ihr uns aus dem Verlies befreit habt …«
»Es ist mir gelungen, das genügt.«
»Der Komtur ist hart, aber gerecht.«
»Gerecht nennst du ihn? Ist es gerecht, einen Menschen zu bestrafen, indem man ihn inmitten von Ungeziefer aller Art an einem Ort gleichsam begräbt, wo er das Licht des Tages nicht sehen kann? Ist es gerecht, ihm nur einen halben Brotfladen zu geben, damit er mit knapper Not am Leben bleibt? Glaubst du wirklich, du hättest ein Ende in jener Hölle verdient, oder auch deine
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