Das Blut der Unschuldigen: Thriller
kann den Kopf kaum drehen, und Tante Sara ist immer noch am ganzen Leib voller blauer Flecken von den Fußtritten. Sie sind völlig verzweifelt und wissen nicht, was sie tun sollen. Mein Vater möchte, dass sie sofort herkommen, aber sie können sich nicht so recht entscheiden. Sie hängen an Deutschland, weil sie so lange dort gelebt haben. Zwar ist Tante Sara, wie du weißt, von Geburt Französin, aber Onkel Isaak ist deutscher als die meisten Deutschen. Er sagt, er versteht nicht, was da vor sich geht.«
Bei den Worten seiner Frau legte es sich Arnaud wie ein Eispanzer um die Seele. Die sanfte Sara, die Schwester von Miriams Vater, eine heitere und stets hilfsbereite Frau. Ihr Bruder war Bibliothekar, und diesen Beruf hatte auch sie erlernt. Onkel Isaak hatte sie auf einer Reise nach Deutschland kennengelernt. Sie war bei einer Reise nach Berlin in seine Buchhandlung gegangen, sie hatten sich miteinander unterhalten, und dann war sie für immer dort geblieben. Sie hatte sich gut in ihrer neuen Heimat eingelebt, und jetzt hatten barbarische Schläger sie misshandelt. Doch warum nur? Der bloße Gedanke daran rief in ihm Entsetzen hervor.
»Sie sollten das Land so rasch wie möglich verlassen«, sagte Arnaud besorgt. »Wir werden ihnen nach Kräften helfen. Sag ihnen, dass sie sich auf uns verlassen können.«
»Das wissen sie schon. Ich fahre hin und hole sie.«
»Du? Warum denn das? Das ist doch Wahnsinn!«
»Ich will sehen, was da vor sich geht, und ihnen bei ihrer Entscheidung helfen. Sie sind so verängstigt, dass sie keinen klaren Gedanken fassen können. Sie haben Angst, dass sich
ihr ganzes Leben in nichts auflöst. Ihren Buchladen haben sie bereits verloren, jetzt fürchten sie, dass sie auch ihr Zuhause verlieren. Schon seit einer ganzen Weile trauen sie nicht mehr auf die Straße, aus Angst, man werde ihnen etwas antun.«
»Sie sind also sozusagen vogelfrei, wie im Mittelalter…«, setzte Fernand an.
»Ja, genau wie im Mittelalter«, bestätigte Miriam betrübt. »Man sieht in uns Juden die Sündenböcke, weil wir ›anders‹ sind, Menschen, denen man alles Böse in die Schuhe schieben kann, das einem selbst widerfährt. Außerdem haben wir bekanntlich Christus getötet, haben ihn ans Kreuz geschlagen …«
»Schweig doch um Gottes willen! Was sagst du da! Ausgerechnet du!«
»Weißt du was, Fernand ? Ich fange an, mich als Jüdin zu fühlen.«
Diese Worte seiner Frau beunruhigten ihn zutiefst. Auf einmal sah sie ihn mit zornsprühenden Blicken an, als hätte er etwas mit den Vorfällen in Deutschland oder den Parteigängern Hitlers in Frankreich zu tun.
Er wusste nicht, was er ihr antworten sollte. Was sie über ihre Verwandten gesagt hatte, bedrückte ihn. Durch Berichte von Kollegen, die in Deutschland gewesen waren, glaubte er ein Bild von der Lage dort zu haben. Schon einige Jahre zuvor hatte man an seiner Universität Geld zur Unterstützung zweier jüdischer Professoren gesammelt, die sich genötigt gesehen hatten, dem im Lande herrschenden Schrecken und Hass zu entfliehen. Nein, er konnte auf keinen Fall sagen, dass ihm neu war, was ihm Miriam berichtet hatte. Trotz aller Beteuerungen der Volksfront-Regierung, dass dergleichen in Frankreich undenkbar sei, hielt er es nicht für ausgeschlossen, dass sich der
Faschismus dort gleichfalls durchsetzte. Immerhin stand auch die spanische Republik davor, den Kampf gegen die Rechte zu verlieren, ganz wie es sein Vater vorausgesagt hatte, der aus einer katalanischen Familie in Perpignan stammte. Er hatte Verwandte jenseits der Pyrenäen, und wie er selbst waren sie Republikaner und Sozialisten. Die Nachrichten, die von ihnen kamen, waren immer beunruhigender: Onkel waren an der Bürgerkriegsfront gefallen, Vettern im Getöse irgendeiner Schlacht verschwunden … Es sah ganz so aus, als stünde der Faschismus im Begriff, überall zu siegen.
Die Welt, die er kannte, schien in Stücke zu gehen, während er fortfuhr, jungen Menschen den Schlüssel zum Verständnis des Mittelalters zu liefern. Er wusste, dass sich Frankreichs faschistische Ligen, die lange im Untergrund operiert hatten, seit einiger Zeit nicht mehr scheuten, offen aufzutreten. Möglicherweise gehörten auch der Metzger Dubois und dessen Sohn einer von ihnen an.
Unübersehbar suchte David Sicherheit und den Schutz des Vaters, und so beschloss Arnaud, die Bitte seines Sohnes zu erfüllen und ihn nach Carcassonne mitzunehmen, auch wenn er nicht wusste, wie sich der Graf dazu stellen
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