Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Witze ist die Lage zu ernst«, gab ihm Professor Cernay zur Antwort, der etwa gleich alt war wie Arnaud.
»Was ist denn los?«
»Ich bin nicht bereit zu glauben, dass der wahnsinnige Hitler Frankreich mit seinen fremdenfeindlichen Vorstellungen infizieren kann«, gab Martine zur Antwort.
»Und ich habe ihr gesagt, sie soll nicht so vertrauensselig sein«, erklärte Cernay.
»Martine beharrt darauf, die republikanischen Werte zu idealisieren. Es ist ihr unmöglich zuzugeben, dass die niedrigsten Instinkte des Pöbels sogar ein Volk mitreißen können, von dem die Große Revolution ausgegangen ist – als hätte nicht eben diese Revolution selbst gerade diese Instinkte freigesetzt«, warf Professor Jean Thierry ein.
»Der zeitliche Abstand verherrlicht die Vergangenheit und sorgt dafür, dass wir das Entsetzliche und das Elend früherer Epochen nicht sehen«, sagte Cernay.
»Ich habe heute einen Studenten vor die Tür gesetzt«, erläuterte Martine Dupont, die merkte, dass Arnaud sie begriffsstutzig ansah. »Wir beschäftigen uns gerade mit dem 13. Jahrhundert
und der Lage im Languedoc, Katharer, Albigenser und so weiter. Normalerweise finden die Studenten das Thema ziemlich spannend … Am Ende der Vorlesung habe ich ihnen Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen und Meinungen zu äußern, und da hat doch tatsächlich so ein Esel behauptet, wir stünden an der Schwelle einer neuen Epoche, in der Südwestfrankreich, er sagte ›Okzitanien‹, die verlorengegangene Unabhängigkeit wiedererlangen werde. Dann hat er ein Loblied auf den ›neuen rassisch reinen Menschen‹ angestimmt, der in dieser idealen Gesellschaft entstehen werde, und sich über die Übel verbreitet, die Europa gegenwärtig zu schaffen machen. Dabei hat er sich dazu verstiegen, die Juden als ›Krebsgeschwür am Leibe der Länder Europas‹ zu bezeichnen, das man ausmerzen müsse.«
»Du hattest Recht damit, ihn vor die Tür zu setzen.«
»Das denke ich auch. Vermutlich ist er ein idiotischer Einzelgänger, der billige Schundliteratur über die Katharer gelesen hat. Vor einem Jahr ist in Deutschland zu dem Thema ein Buch mit dem Titel Luzifers Hofgesind, eine Reise zu den guten Geistern Europas erschienen, das in einigen Ländern ziemlich erfolgreich war. Verfasst hat es eben der Otto Rahn, der auch Kreuzzug gegen den Gral: die Geschichte der Albigenser geschrieben hat – ein haarsträubendes Machwerk, in dem er die Katharer als völlig neue Rasse von Menschen hinstellt, als Auserwählte, die den Gral hüten, gleichsam höhere Wesen. Bei ihm sind sie nicht etwa Christen, sondern Heiden.«
»Ich kenne beide Bücher. Ganz meine Meinung, das ist Afterliteratur«, bestätigte Arnaud.
»Ja, aber unsere Kollegin will nicht einsehen, dass esoterisches Gedankengut gefährlich sein kann«, warf Professor Cernay ein. »Dass es Afterliteratur ist, spielt dabei nicht unbedingt
eine Rolle. Manche handhaben dies Gedankengut so geschickt, dass sie damit Jünger um sich scharen, die ihre rassistischen Vorstellungen teilen. Der Student, über den sie vorhin gesprochen hat, ist zwar ein deutliches Beispiel dafür, aber bedauerlicherweise kein Einzelfall.«
»Ich habe in meinem Seminar mehrere rassistisch eingestellte Studenten«, sagte Professor Thierry. »Es ist bereits verschiedentlich zu dialektischen Zusammenstößen gekommen, die einmal sogar fast in Handgreiflichkeiten ausgeartet wären. Einige meiner Studenten sind Juden und nicht bereit, sich als Angehörige einer minderwertigen Rasse hinstellen zu lassen. Kein Wunder, dass sie sich gegen die – bisher lediglich verbalen – Angriffe gewisser Kommilitonen zur Wehr setzen.«
»Großer Gott, ausgerechnet hier an der Universität sollte es so wenig Gehirn geben?«, klagte Cernay.
»Ich schlage vor, dass wir das Thema zum Gegenstand einer Fakultätssitzung machen«, regte Thierry an. »Martine meint aber, wir hätten es hier lediglich mit vier oder fünf Einfaltspinseln zu tun, und fürchtet, weitere Studenten könnten sich denen aus lauter Widerspruchsgeist anschließen, wenn wir das zum Thema machen.«
Professor Arnaud steckte sich eine Zigarette an und sog nachdenklich daran. Er sah keine Lösung für das von den Kollegen angeschnittene Problem. Einerseits war er überzeugt, dass man der Fremdenfeindlichkeit, die sich in der Universität hier und da zu zeigen begann, so früh wie möglich entgegentreten musste, andererseits aber … vielleicht hatte Martine ja Recht. Möglicherweise bewirkte
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