Das Blut der Unschuldigen: Thriller
Miriam beunruhigt Fragen: Ob es auch in Frankreich Nachteile mit sich bringen konnte, wenn man Jude war, wie sie es über Deutschland gelesen hatte? Würde man ihren Sohn und womöglich sie selbst wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die ihr herzlich gleichgültig war, ausgrenzen?
Fernand war tief in Gedanken und achtete daher nicht auf ihre Worte. Mit einem Mal aber fuhr er auf, weil er hörte, wie sie sagte: »… und dann hat ihm David eins mit der Faust versetzt, aber…«
»Von wem sprichst du?«
»Hast du mir nicht zugehört? Ich sagte gerade, dass man deinen Sohn beleidigt und ›Saujude‹ genannt hat. Eine Weile hat er sich das angehört, schließlich aber hat er dem anderen eins mit der Faust versetzt …«
»Wem denn?«, erkundigte er sich und sah sich nach David um, der ihn aufmerksam beobachtete.
»Du hörst mir nie zu! Deswegen hast du auch nicht mitbekommen, was ich dir erzählt habe.«
Er senkte den Kopf zum Zeichen, dass er ihr Recht gab. Es stimmte, er hatte nicht auf ihre Worte geachtet. Er merkte, dass sie ärgerlich und besorgt war.
»Tut mir leid. Fang bitte noch einmal von vorn an.«
»Wir haben dir bisher nichts davon gesagt, um dich nicht zu beunruhigen, aber seit einer ganzen Weile legt sich der Sohn des Metzgers Dubois mit David an, nennt ihn ›Saujude‹ und bedauert, dass es in Frankreich keinen Hitler gibt. Bisher ist David einer offenen Auseinandersetzung mit ihm aus dem Weg gegangen, aber gestern hat ihm der Junge mit einigen Spießgesellen vor der Schule aufgelauert. Sie haben ihn hin und her geschubst, ohne dass ihm jemand geholfen hätte. Selbst seine Freunde sind verschwunden und haben ihn allein gelassen. Er konnte die Demütigung nicht einfach hinnehmen und hat dem unverschämten Bengel einen Fausthieb versetzt. Kurz darauf ist sein Vater gekommen, er wollte mit dir reden.«
Fernand sah Miriam und David entsetzt an. Wie konnte das geschehen, ohne dass er etwas davon gemerkt hatte? Was ging da vor sich? Hatten seine Kollegen womöglich Recht, und er war, ganz wie Martine, nicht bereit einzusehen, wie weit die Dinge schon gediehen waren?
Er trat auf seinen Sohn zu und nahm ihn in den Arm, um ihm zu zeigen, dass er bereit war, ihn zu schützen. Dabei merkte er, dass sich der Junge sperrte. Offensichtlich war ihm die Umarmung unbehaglich.
»Das tut mir wirklich leid, mein Junge. Ich werde mit dem Vater dieses Rabauken reden, und ich verspreche dir, dass sich das nicht wiederholen wird.«
»Meinst du wirklich?«, fragte David herausfordernd. »Wer
sagt dir denn, dass sein Vater auf dich hört? Vielleicht weißt du nicht, was dieser Dubois über uns denkt. Neulich war ich mit Mama beim Einkaufen in seiner Metzgerei, und als wir hinausgegangen sind, hat er gesagt: ›Sogar als Hackfleisch wären mir diese Juden eklig.‹«
Es kam Fernand vor, als hätte ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Miriam sah ihn besorgt an. Er kannte ihre Tapferkeit und wusste, dass sie sich von gehässigen und rassistischen Äußerungen nicht übermäßig beeindrucken ließ, doch sein Sohn … War David ebenso unerschrocken wie sie oder er selbst? Man hatte den Jungen in tiefster Seele verletzt, und er hatte erst jetzt davon erfahren.
»Ich werde vom Vater dieses Rüpels eine Erklärung verlangen. Notfalls zeige ich ihn an.«
Zur großen Verblüffung seiner Eltern lachte David bitter auf. Ein solches Verhalten war ungewohnt, denn er war von ebenso ruhiger Wesensart wie seine Mutter.
»Anzeigen willst du ihn? Bei wem denn? Solltest du tatsächlich nicht wissen, was hier gespielt wird? Ausgerechnet du … Du beschäftigst dich doch immer so intensiv mit Politik.«
»Sicher, aber ich setze mich für keine der Parteien ein, weil sie die Menschen zu sehr auf ihre Ansichten einengen«, versuchte er sich zu rechtfertigen.
»Aber du liest doch Zeitung, oder etwa nicht?«, erkundigte sich David. Es klang, als verhörte er ihn.
»Der Junge hat Recht. Auch ich mache mir Sorgen«, sagte Miriam. »Vor zwei Tagen kam meine Mutter in Tränen aufgelöst hierher und hat mir einen Brief von Tante Sara mitgebracht, den ihr aus Deutschland geflohene Bekannte gegeben hatten. Darin steht, dass ihnen vor einigen Wochen ein Trupp SA-Leute in der Nacht die Schaufenster ihrer Buchhandlung
eingeschlagen, den Laden verwüstet, Bücher auf die Straße geworfen und angezündet hat. Dann haben sie die beiden alten Leute zusammengeschlagen. Onkel Isaak hat einen gebrochenen Arm und
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