Das Blut der Unschuldigen: Thriller
schwadroniert über die üblen Einflüsse des Auslandes auf das französische Wesen. Der Hornochse hat mir ganz von oben herab mitgeteilt, dass er der patriotischen Jugendorganisation angehört. Ich habe beantragt, ihn zu relegieren und vom Rektor eine Untersuchung des Vorfalls verlangt. Jetzt soll eine informelle Besprechung aller Dozenten stattfinden, deshalb bin ich gekommen. Ich habe mir schon gedacht, dass du hier sitzt und arbeitest.«
Er erhob sich mechanisch. Es kam ihm vor, als hätte sich seine Kollegin in die heilige Johanna des Antifaschismus verwandelt. Tag für Tag gab es solche Zwischenfälle, und sie bestand darauf, keinerlei Äußerungen gegen das zu dulden, was ihrer Ansicht nach die französische Republik verkörperte.
»Es tut mir leid, aber ich kann an dieser Besprechung nicht teilnehmen«, entschuldigte er sich. »Ich habe meinem Sohn versprochen, ihn von der Schule abzuholen.«
Als er vor dem Gymnasium eintraf, war David bereits gegangen. Besorgt eilte Arnaud nach Hause in die rue Foucault, in der Hoffnung, ihn dort anzutreffen.
David saß im Wohnzimmer vor dem Radio. In klagendem Ton sagte er: »Wir haben immer noch nichts von Mama gehört … du musst in der Botschaft anrufen …«
Arnaud setzte sich neben ihn und hörte zu, was der Nachrichtensprecher mit ernster Stimme verlas.
Miriam war schon mehrere Tage fort und hatte noch nichts von sich hören lassen, und unter der Nummer ihrer Berliner Verwandten nahm niemand ab.
Das Klingeln des Telefons schreckte beide auf. Sogleich stürzte David hin und meldete sich.
»Es ist Großvater Jean«, sagte er und gab seinem Vater den Hörer.
»Ja … ich weiß … uns geht es gut. Nein, von Miriam wissen wir nichts.«
Es fiel ihm schwer, auf seinen Vater einzugehen, denn die Sorge um seine Frau bedrückte ihn.
»Nein, sag Mama, dass wir nichts brauchen. Ja, ich ruf an, sobald wir etwas wissen. Gut, wir kommen dann heute zu euch zum Abendessen. Ja, um sieben. Bis dann.«
Als er auflegte, merkte er, dass ihm kalter Schweiß über den
Rücken lief. David saß wieder am Radio, als wartete er darauf, dass man gleich etwas über seine Mutter sagen werde.
»Was wollen wir tun, Papa?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht können wir über den Schwager meines Kollegen Paul Castres etwas erfahren. Er arbeitet im Außenministerium.«
Der Kollege versprach, Bescheid zu geben, sobald er Gelegenheit hatte, mit seinem Schwager zu sprechen, bat aber gleichzeitig um Geduld. »Wie die Dinge liegen, wird es auch für mich nicht einfach sein, mit ihm Verbindung aufzunehmen.«
»Sie hat uns versprochen, dass sie anruft, sobald sie da ist«, murmelte David vor sich hin. »Sie hat es versprochen.«
Arnaud wusste nicht, was er seinem Sohn sagen sollte.
»Ich möchte nicht zu Oma und Opa, solange dein Kollege nicht angerufen hat«, sagte David.
Paul Castres meldete sich gegen sechs Uhr abends. »Viel kann ich dir nicht sagen, lediglich, dass unsere Botschaft in Berlin der Sache nachgehen wird. Dazu braucht mein Schwager die Anschrift und die Telefonnummer der Verwandten deiner Frau. Jemand von der Botschaft wird versuchen, mit den Leuten Verbindung aufzunehmen. Du musst aber verstehen, dass die Dinge im Augenblick nicht zum Besten stehen und Frankreichs Position in Deutschland nicht besonders günstig ist … Mein Schwager sagt, dass sich Daladier im vorigen Jahr bei den Verhandlungen in München gewaltig von Hitler hat einseifen lassen.«
Als er und David bei seinen Eltern eintrafen, sahen sie, dass auch die Schwiegereltern gekommen waren. Fernand bemühte sich, sie – und zugleich sich selbst – zu beruhigen, indem er ihnen mitteilte, die französische Botschaft in Berlin werde sich nach Miriams Verbleib erkundigen.
Am folgenden Tag weigerte sich David, zur Schule zu gehen, und duldete nur widerwillig die Anwesenheit einer der beiden Großmütter, die sich verabredet hatten, sich um ihn und seinen Vater zu kümmern.
Die beiden Frauen erledigten die Hausarbeit, kochten und sorgten vor allem dafür, dass sich Vater und Sohn, die lieber allein geblieben wären, nicht einsam fühlten.
Der Kollege Paul Castres versuchte Arnaud aufzumuntern, als er ihn in der Fakultät traf. Er sei sicher, sagte er, dass sein Schwager ihm helfen werde. Vier Tage später teilte er ihm mit, er möge den Schwager in dessen Büro im Außenministerium am Quai d’Orsay aufsuchen.
Arnaud meldete sich mit David zur vorgesehenen Stunde am Eingang, wo Castres sie bereits
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