Das Blut der Unschuldigen: Thriller
fallen dürfe, wenn sie arbeitete, weil sie ihn sonst nicht mehr mitbringen durfte.
Im Park ließ Arnaud ihn ein Stück an seiner Hand laufen. Bestimmt würde sich seine Mutter freuen, wenn sie diesen Fortschritt sah, denn sie hatte schon geklagt, er lerne viel zu spät laufen.
9
Die Tage gingen ruhig dahin. Morgens ging er mit Günter hinaus, der erstaunliche Fortschritte machte und bald so gut wie allein gehen konnte, nachmittags suchte er gewöhnlich die Familien Bauer oder Schneider auf, um zu fragen, ob sie etwas von den Levis gehört hätten. Auch war er noch einige Male in der Hoffnung zum Bahnhof gegangen, den Zugschaffner anzutreffen – vergeblich.
Zehn Tage nach seiner Ankunft in Berlin kam ein Anruf von der französischen Botschaft. Man forderte ihn auf, sich am kommenden Tag um acht Uhr dort einzufinden.
Er ging pünktlich hin und fürchtete, man werde ihm lediglich mitteilen, dass man weiterhin nichts von Miriam wisse.
Doch der Beamte sagte: »Hier habe ich den Bericht, den uns das Außenministerium des Deutschen Reiches übersandt hat.« Mit diesen Worten gab er ihm ein Blatt, auf dem in dürren Worten stand, dass man weder Kenntnis von einem Unfall einer französischen Staatsbürgerin habe noch eine solche in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Auch wisse man von keinem Zwischenfall, in den eine französische Staatsbürgerin verwickelt gewesen sei, weshalb auch keine Polizeiwache oder sonstige Dienststelle oder Anstalt etwas über sie wisse. Überdies sei es nicht einmal sicher, dass die Genannte überhaupt in Berlin angekommen sei. Damit erklärte man den Fall für abgeschlossen.
»So einfach ist das?«, fragte Arnaud bitter enttäuscht.
»So einfach ist das. Offiziell gibt es keinen Fall.«
»Können Sie da nicht etwas nachhaken?«, bat er den Beamten.
»Sicher, aber niemand wird sich veranlasst fühlen, etwas zu unternehmen. Man wird mir höchstens einen weiteren solchen Bericht schicken.«
»Glauben Sie, dass die Leute wirklich nach ihr gesucht haben?«
»Was ich glaube, ist nebensächlich. Sie behaupten, dass sie es getan haben und das hier das Ergebnis sei. Mir ist lediglich eines klar, nämlich dass sie darüber hinaus nichts unternehmen werden.«
»Und die Polizei?«
»Wie Sie wissen, haben wir da einen Kontaktmann, aber auch über den haben wir nichts erfahren. Gerade heute Morgen habe ich mit ihm gesprochen, kurz bevor Sie gekommen sind, und er hat mir versichert, dass man bei der Polizei nichts über Ihre Gattin weiß und überzeugt ist, dass sie nie in Berlin angekommen ist.«
»Und hat man den Schaffner befragt?«
»Wie es aussieht, hat man ihn ermittelt und ihm ein Foto Ihrer Gattin vorgelegt. Es heißt, dass er sich nicht erinnern kann. Der Botschafter hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, dass wir weiterhin alles tun werden, was in unserer Macht steht, doch wir können Ihnen keinerlei Hoffnung auf Resultate machen. Es ist, als jagte man einem Phantom nach.«
»Meine Frau gibt es aber wirklich. Sie ist in Berlin eingetroffen und hat sich in der Wohnung ihrer Verwandten aufgehalten.«
»Das bezweifle ich nicht, aber Sie müssen verstehen, dass uns die Hände gebunden und unsere Möglichkeiten, etwas zu unternehmen, beschränkt sind.«
»Ich bin fest überzeugt, dass die deutschen Behörden nicht das Geringste unternommen haben«, schloss Arnaud. »Wenn ich nur den Grund dafür wüsste.«
Schweigend hielt der Beamte seinem Blick stand. Darauf wusste auch er keine Antwort.
Geknickt verließ Arnaud die Botschaft. Ihm war klar, dass man dort nichts weiter unternehmen und ihm höchstens ab und zu die knappe Mitteilung zukommen lassen werde, dass man nach wie vor nichts über den Aufenthalt seiner Frau wisse.
Wenn er jetzt nach Paris zurückkehrte, wäre das gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass er Miriam für immer verloren gab. Er sah sich außerstande, den Kummer zu ertragen, den er damit seinem Sohn, den Schwiegereltern und sich selbst bereiten würde. Er durfte in seinen Bemühungen nicht nachlassen, obwohl er nicht wusste, welche Richtung er dabei einschlagen sollte.
Wieder einmal streifte er ziellos durch die Stadt, die ihm immer verhasster wurde. Die Regentropfen, die auf sein Gesicht fielen, vermischten sich mit seinen Tränen.
»Wo bist du, Miriam? Wo bist du?«, flüsterte er. Der eine oder andere Passant drehte sich neugierig nach ihm um. Es war ihm einerlei. Seine Qual war zu groß, als dass er sich über das Gedanken gemacht hätte, was
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