Das Blut der Unschuldigen: Thriller
besser, mit Deutschland über einen Waffenstillstand zu verhandeln, als ohne die geringste Aussicht auf Erfolg zu kämpfen.
Am Spätnachmittag des 22. Juni suchte Martine Dupont Fernand Arnaud in seinem Arbeitszimmer an der Universität auf.
»Ich möchte mich von dir verabschieden, bevor die anderen davon erfahren«, erklärte sie. »Ich gehe.«
»Warum das?«
»Weißt du es noch nicht?«
»Nein. Was denn?«
»Was vorauszusehen war. General Huntziger und Feldmarschall Keitel haben in Compiègne einen Waffenstillstand unterzeichnet. Alles ist aus.«
»Was meinst du mit ›alles ist aus‹?«
»Man sagt, dass Reynaud sein Amt als Ministerpräsident niederlegt und Pétain an die Spitze der Regierung tritt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie es weitergehen wird.«
»Und wohin willst du?«
»Habe ich dir nie gesagt, dass ich Jüdin bin?«
Sprachlos sah er sie an. Nein, davon hatte sie nie etwas gesagt, und ihr urfranzösischer Nachname Dupont hatte derlei auch nicht nahegelegt.
Als hätte sie seinen Gedankengang erraten, erklärte sie: »Von Mutters Seite. Du weißt ja selbst: Als Jude gilt, wessen Mutter Jüdin ist. Ehrlich gesagt war ich mir selbst nie so richtig darüber im Klaren. Ich bin außerhalb jeder Religion aufgewachsen, Meine Mutter ist nicht gläubig, und ich habe sie nie zur Synagoge gehen sehen, so, wie ich meinen Vater auch nie habe zur Messe gehen sehen. Er ist der typische Taufscheinchrist. Jetzt allerdings …«
»Du bist Französin, Martine«, wandte er ein.
»Das war ich bisher. Aber ab sofort bin ich für die Politiker in erster Linie Jüdin und erst dann Französin. Bekanntlich hat es auch hierzulande stets antisemitische Strömungen gegeben, ganz wie im übrigen Europa, doch was uns in dieser Hinsicht bevorsteht, wird alles Bisherige in den Schatten stellen. Ich denke nicht daran, mich als Untermenschen behandeln zu lassen.«
Er schwieg, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. Sie nahm seine Hand und drückte sie freundschaftlich.
»Und wohin gehst du also?«
»Nach Palästina.«
»Das ist nicht dein Ernst! Was willst du denn da?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Auf jeden Fall werde ich
erst einmal in einem Kibbuz leben. Nachbarn von mir, genauer gesagt, Freunde, sind vor zwei Jahren dort hingegangen. Sie schreiben, dass das Leben im Kibbuz ein richtiges Abenteuer ist. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, mein Leben zu ändern. Ich werde dir schreiben, wie es mir bekommt, Kopfsalat anzubauen.«
»Aber warum gehst du nicht nach Amerika? Mit deinem Ruf als Historikerin würdest du dort eine erstklassige Anstellung bekommen.«
»So einfach ist das da auch nicht. Außerdem bin ich der Ansicht, dass gerade jetzt der richtige Zeitpunkt ist, nach Palästina zu gehen. Ich möchte wissen, was es bedeutet, Jüdin zu sein, und was ich empfinden werde, wenn ich den Boden des Gelobten Landes betrete.«
»Wirst du denn dort in Sicherheit sein?«
»Das weiß ich nicht. Meine Freunde berichten, dass sie mit dem Gewehr in der Hand schlafen, denn wie du weißt, hat es vor einigen Jahren einen arabischen Aufstand gegen die Anwesenheit von Juden in Palästina gegeben. Allem Anschein nach leben die Siedler dort trotz der Anwesenheit der Briten als Schutzmacht nicht unbedingt wie auf einer Insel der Seligen. Übrigens tun die Briten angeblich alles, um zu verhindern, dass noch mehr Juden ins Land kommen, was die aber nicht abschreckt …«
»Entschuldige, wenn ich indiskret bin, aber welchen Beruf haben deine Freunde ausgeübt, bevor sie dort hingegangen sind?«
»Jean ist Anwalt, und Marie hat in einer Parfümerie gearbeitet. Sie haben mir geraten zu gehen, solange das noch möglich ist, und ich denke, sie haben Recht.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Du wirst es nicht glauben, aber ein Priester hilft mir dabei. Er ist der Bruder einer Freundin.«
»Du wirst mir fehlen, Martine«, sagte er.
»Du mir auch. Ich habe hier keinen besseren Freund als dich. Alle werden dich fragen, ob du gewusst hast, dass ich Jüdin bin.«
Martines Worte erinnerten ihn an Debora, die Tochter der Schneiders in Berlin und deren Erklärung dafür, warum sie sich von ihren Kindern getrennt und sie nach New York geschickt hatte. Ob er sich nicht besser auch über Davids Zukunft Gedanken machte? So unglaublich ihm das vorkam, sein Sohn war für die Behörden im Lande inzwischen Jude, und nichts als das.
Es dürfte ihm schwerfallen, der Verwandtschaft eine solche Entscheidung
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