Das Blut der Unschuldigen: Thriller
erklärte, selbstverständlich könne sich Arnaud für seine persönliche Tragödie so viel Zeit lassen, wie nötig sei. Allerdings werde man dankbar sein, wenn er es einrichten könne, wenigstens auf einige Tage nach Paris zu kommen, weil dies und jenes zu regeln sei. Nicht nur müsse man, sofern er länger fortzubleiben gedenke, eine Vertretung für seine Unterrichtsveranstaltungen
finden, es seien auch Entscheidungen in Bezug auf die Arbeit an Bruder Juliáns Chronik zu treffen, zu deren Veröffentlichung sich die Universität verpflichtet habe. Er wollte wissen, ob Arnaud jemanden empfehlen könne, der in der Lage sei, die Arbeit an seiner Stelle zu beenden.
Diese beiden Telefonate rissen ihn aus der unwirklichen Welt, der er in Berlin auf Schritt und Tritt begegnete. Vor Miriams Verschwinden war er ein gänzlich anderer Mensch gewesen. Er hatte eine Familie gehabt, einen Beruf, der ihn begeisterte, Freunde und Kollegen, hatte Schriften über das französische Mittelalter veröffentlicht, in ganz Europa Vorträge gehalten … Jetzt aber hatte er sich selbst in ein Phantom verwandelt.
Er stand vor einer Entscheidung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen würde. Falls er in Berlin bliebe, würde das nicht nur die Trennung von David bedeuten. Er würde sich auch ernsthaft Gedanken darüber machen müssen, wovon er leben wollte, denn seine Ersparnisse konnten ihn nicht endlos lange ernähren. Ein Kollege hatte ihm empfohlen, sich eine bestimmte Zeit beurlauben zu lassen …
»Ich an Ihrer Stelle würde nach Frankreich zurückkehren«, riet ihm Inge Schmid beim Abendessen. »Wie die Dinge liegen, dürfte es außerordentlich schwer sein, Ihre Frau zu finden. Unter Umständen sind die Aussichten später besser. Sie könnten ja von Zeit zu Zeit nach Berlin kommen.«
»Ich möchte sie nicht aufgeben.«
»Das würden Sie damit ja auch nicht unbedingt tun. Gleichzeitig dürfen Sie aber auch Ihren Sohn nicht aufgeben.«
Er entschloss sich, ihrem Rat zu folgen. Sie schien über ein Maß an Alltagsverstand und Lebenserfahrung zu verfügen, wie er es bei einem so jungen Menschen nicht erwartet hätte.
Auch sie hatte miterlebt, wie ein geliebter Mensch einfach verschwand, und führte ihr Leben unbeirrt weiter. Was mochte sie sich vom Leben noch erwarten?
11
Jetzt war es also doch geschehen. Deutschland und Frankreich befanden sich im Krieg, doch es gab keine Kampfhandlungen. Die französischen Zeitungen nannten die Situation »drôle de guerre«, die Deutschen »Sitzkrieg«, weil sich an der Front nichts bewegte. Manche waren der Meinung, die französische Regierung habe ihr Ultimatum, das Hitler aufforderte, sich aus Polen zurückzuziehen, nicht ernst gemeint, sondern damit lediglich vor der Weltöffentlichkeit das Gesicht wahren wollen. Wie dem auch sein mochte, offiziell befanden sich beide Länder im Krieg, und Arnaud begriff, dass er unter diesen Umständen ohnehin nicht viel länger in Berlin hätte bleiben können.
Das Wiedersehen mit David war alles andere als einfach. Wortlos, nur durch sein Verhalten, machte ihm sein Sohn Vorwürfe wegen seiner Unfähigkeit, seine Mutter zu finden. Nachts hörte er den Jungen schreien. Vermutlich quälten ihn Alpträume. Bisweilen gab es Streit, weil er sich hängen ließ und nichts für die Schule tat. Für David hatte das Leben seinen Sinn verloren.
Die Kollegen freuten sich über Arnauds Rückkehr und hörten sich besorgt an, was er über Hitler-Deutschland zu berichten hatte.
Anfangs war er einige Male nach Berlin gefahren, hatte bei Inge Schmid gewohnt, war drei- oder viermal zur Botschaft gegangen und hatte die Freunde der Levis besucht. Diese hatten ihn mit Leuten bekannt gemacht, die im eigenen Land lebten wie Exilanten. Dann war er niedergeschlagen nach Paris zurückgekehrt. Nach dem Überfall Hitlers auf Polen und der Kriegserklärung Frankreichs war es mit der Möglichkeit, nach Berlin zu fahren, vorbei gewesen.
Als Frankreich dem Diktator im Juni 1940 wie eine reife Frucht in den Schoß fiel, genauso, wie es zuvor Holland und Belgien ergangen war, gehörte Arnaud zu den wenigen Franzosen, die das nicht überraschte. In nicht einmal einem Monat hatten sich die französischen Truppen zurückgezogen, und so lag Paris offen und unverteidigt vor der Wehrmacht da.
Der Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte General Maxime Weygand und der Chef des »État Français«, Marschall Pétain, setzten sich im Krisenkabinett mit ihrer Ansicht durch, es sei
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