Das Blut der Unschuldigen: Thriller
klarzumachen, aber er war entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Zuerst sprach er mit David, dann berief er seine Eltern, seine Schwiegereltern und die übrigen Angehörigen zum Familienrat ein.
»Mir ist klar, dass euch überraschen wird, was ich euch zu sagen habe, aber ich habe beschlossen, meinen Sohn nach Palästina zu schicken.«
Stumm vor Staunen sahen ihn die Schwiegereltern an. Auch seine Eltern wussten nicht, was sie sagen sollten. Sein älterer Bruder räusperte sich unbehaglich, und seine Schwägerin rang aufgeregt die Hände.
»Ich bleibe hier, Papa«, sagte David. »Ich gehe nirgendwo hin, solange Mutter nicht wieder hier ist.«
»Ich kann mir denken, dass du das nicht möchtest, denn wir haben darüber gesprochen. Doch so leid es mir tut, mein Junge, diesmal zählt deine Meinung nicht. Dein Leben ist mir wichtiger, und in Frankreich bist du einfach nicht mehr sicher. Ich möchte nicht …«
Stumm überlegten alle, was Miriam dazu gesagt hätte.
»Eine gute Bekannte von mir bricht in wenigen Tagen nach Palästina auf. David wird sie begleiten. Habt ihr dort Verwandte?« , fragte er seine Schwiegereltern.
»Natürlich«, sagte Miriams Mutter. »Zwei meiner Brüder leben da unten und mehrere Neffen. Es ist aber nicht so einfach …«
»Das weiß ich. Aber zumindest ist es dort kein Makel, Jude zu sein, wie hier.«
»Wir leben in Frankreich«, gab ihm sein älterer Bruder zu bedenken.
»Ja, wir leben in Frankreich. Und was ist in der Kulturnation Deutschland geschehen, wo ein ehemaliger Gefreiter die Richtlinien für das ganze Volk festlegt? Ich darf dich daran erinnern, dass unsere Regierung mittlerweile aus Marionetten besteht, deren Fäden von Berlin aus gezogen werden. Ich bin mit eigenen Augen Zeuge geworden, wie es dort zugeht. Ich will weder, dass man meinen Sohn vor dem Eingang seines Gymnasiums zusammenschlägt oder auf andere Weise erniedrigt, noch dass man ihn eines Tages mitten in Paris auf offener Straße verhaftet und er auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Miriam hätte das nie verwunden. Ihr könnt euch ja wohl denken, was Davids Abwesenheit für mich bedeuten wird, aber auf jeden Fall weiß ich dann, dass er lebt, und allein darauf kommt es mir an.«
»Fernand hat Recht«, sagte sein Vater. »Wir leben hier zwar in Frankreich, aber, mein Junge«, fügte er zu David gewandt hinzu, »was hat unsere Regierung mit den geflüchteten Republikanern aus Spanien gemacht? Teils hat man sie zurückgeschickt, teils in Lager gesteckt. Unsere Zeitungen haben sie als ›menschlichen Abfall‹ und ›gefährliche Eindringlinge‹ bezeichnet …«
Fernands Mutter fiel ihrem Mann ins Wort, um ihn daran zu erinnern, dass Organe wie Le Populaire oder L’œuvre diese Leute unterstützt hatten und der Erzbischof von Paris, Kardinal Verdier, wie auch einige katholische Schriftsteller, unter ihnen Jacques Maritain und François Mauriac, sich offen für sie ausgesprochen hatten.
Doch ihr Mann ließ sich nicht von seiner Ansicht abbringen, dass David außerhalb Frankreichs sicherer sei. Arnaud war dem Vater dankbar für die Unterstützung. Er wusste, wie empört dieser über die Haltung der französischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen des spanischen Bürgerkriegs gewesen war. Unter ihnen hatten sich Verwandte von ihm befunden, die er unter Gefahr für sich selbst gerettet hatte. Vater wie Sohn trauten dem neuen Frankreich nicht, und sie dachten nicht daran, wie so viele andere bewusst die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen, um ja nichts sehen zu müssen.
Wieder bat David seinen Vater, bleiben zu dürfen, doch dieser ließ sich nicht von seinem Entschluss abbringen, obwohl er sich insgeheim fragte, ob sein Vorhaben nicht doch abwegig sei.
»Und was wirst du tun, Papa?«
»Ich bleibe hier, warte auf deine Mutter und beschäftige mich weiter mit Bruder Juliáns Chronik. Es ist eine ebenso tragische wie anrührende Geschichte.«
»Aber du fährst doch gar nicht gern zu diesem Grafen …«
»Das stimmt, diese Leute sagen mir nicht im Geringsten zu. Glücklicherweise war ich auch eine ganze Weile nicht dort, denn das ist für meine Arbeit nicht nötig. Ganz davon abgesehen vermute ich, dass der Graf mich nicht unbedingt in seiner Nähe haben will. Das trifft sich gut, denn seit der Sache mit deiner Mutter fällt es mir schwer, Menschen zu ertragen, die mit den Nazis gemeinsame Sache machen.«
»Du wirst dich also sozusagen in deiner Vergangenheit verkapseln«, sagte sein Sohn
Weitere Kostenlose Bücher