Das Blut der Unsterblichen
sehen, morgen früh sieht die Welt wieder anders aus.“
Leilas Atem hatte sich noch nicht wieder beruhigt, sie schluchzte trocken.
„Möchtest du wieder bei mir schlafen?“, bot Kristina an.
Leila nickte, nahm ihr Kissen und folgte ihrer Mutter in das Schlafzimmer. Dort kuschelte sie sich an Kristina heran und hielt ihre Hand fest umklammert. In dieser Nacht dauerte es lange, bis Leila sich beruhigte und endlich wieder einschlafen konnte. Kristina wachte neben ihrer bebenden Tochter und nahm sich fest vor, so schnell wie möglich mit ihren Recherchen über Marcus zu beginnen.
Müde und bleich saß Leila am Frühstückstisch und schlürfte grünen Tee. Normalerweise verblassten die Schrecken der Nacht in der Helligkeit des anbrechenden Tages, doch diesmal erinnerte sie sich an alle Einzelheiten. Der Traum war ihr noch so gegenwärtig, als hätte sie ihn gerade erst geträumt. Sie hatte ihrer Mutter bisher verschwiegen, dass sie schon oft von ihrem Vater geträumt hatte, allerdings noch nie so realistisch und blutrünstig wie in der Nacht zuvor.
Die Träume verstörten sie, gaben ihr das Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie wie ein gefangenes Tier in ihrem Zimmer umherlief, stundenlang, immer hin und her, als würde sie ungeduldig auf etwas warten, ohne jedoch die leiseste Ahnung zu haben worauf. Die starke innere Unruhe, die sie verspürte, sorgte dafür, dass ihr Körper ständig in Bewegung blieb, was vor allem den Schulunterricht zur Tortur machte. Um den Bewegungsdrang zu unterdrücken, trommelte sie entweder mit ihren Fingern nervös auf der Tischplatte herum oder wippte mit den Füßen auf und ab. Manchmal rutschte sie auch auf dem quietschenden Stuhl herum, bis sie vom Lehrer ermahnt wurde, da dieser annahm, sie würde den Unterricht absichtlich stören.
Im Gegensatz zu anderen Mädchen ihres Alters machte sie sich über ihr Aussehen wenig Gedanken. Sie mochte ihre langen, kastanienbraunen Haare, die in sanften Wellen über ihre Schultern flossen und ihre Haut, die eine Nuance dunkler war als die einer durchschnittlichen Nordeuropäerin, ein Erbe ihres Vaters, wie ihre Mutter sagte. Außerdem war sie relativ groß und hatte von Natur aus eine sportliche Figur. Ihre Freundinnen jammerten ständig über ihr Aussehen, egal ob gerechtfertigt oder nicht, doch derartige Nörgeleien blieben Leila fremd.
Ihr zurückhaltendes Wesen, gepaart mit einem natürlichen Selbstbewusstsein, sorgte dafür, dass sie bei Lehrern und Mitschülern gleichermaßen beliebt war. Ihr eigenartiges Verhalten machte die Beliebtheit jedoch nach und nach zunichte. Zudem ließen ihre Schulnoten mittlerweile zu wünschen übrig, was in absehbarer Zeit zu Ärger mit ihrer Mutter führen würde. Wie sollte sie erklären, dass ihr zum Lernen einfach die innere Ruhe fehlte?
Als Leila an diesem Morgen auf den Schulhof schlenderte und nach ihren Freundinnen Ausschau hielt, war sie schlecht gelaunt und verspürte den Wunsch, jemanden anzufahren. Dumpfe Kopfschmerzen und der Albtraum der vergangenen Nacht plagten sie. Sie erspähte ihre beste Freundin Thea, die zusammen mit zwei Klassenkameradinnen unweit des Schulkiosks stand und Automatenkaffee schlürfte. Es hatte noch nicht geklingelt und so musste Leila sich einen Weg durch die große Schülerschar bahnen, was fast schon einem Hindernislauf gleichkam und ihre Laune nicht gerade verbesserte. Ihre Freundinnen hatten die Köpfe zusammen gesteckt und unterhielten sich angeregt. Leila behielt sie im Blickfeld, während sie sich zwischen plappernden Schülergruppen hindurchschlängelte und umherrennenden Fünftklässlern auswich. Plötzlich, wie aus dem Nichts, hörte sie einzelne Worte heraus.
„… ist komisch … habt ihr gesehen … Leila … voll daneben.“
Das waren die Stimmen ihrer Freundinnen. Leila blieb verwirrt stehen.
Der Geräuschpegel um sie herum war enorm hoch und sie war noch mindestens zwanzig Meter von ihren Freundinnen entfernt, und doch konnte sie Teile des Gesprächs hören. Sie versuchte, sich bewusst auf die Unterhaltung zu konzentrieren.
„… so schrecklich nervös, das ist fast schon unheimlich.“,
„Vielleicht sollte Silvi sie lieber nicht … Party einladen … Freak, oder?“
„Das können wir nicht … Leila ist unsere Freundin.“
„Ist … das wirklich?“
Leila starrte sie fassungslos an. Ihre Freundinnen sprachen über sie, und anscheinend hatten sie nichts Freundliches zu sagen. Sollte sie
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