Das Blut der Unsterblichen
außerstande war, etwas an ihrem Leben zu verändern.
Sie hatte sich angewöhnt, ihre Großmutter einmal in der Woche im Pflegeheim zu besuchen. Zwar erkannte die alte Frau sie nicht immer, doch da Kristina sich so verzweifelt nach einer Familie sehnte, ignorierte sie diesen Umstand. Sie brachte ihr Butterplätzchen mit, die sie besonders gerne aß, oder ein altes Foto aus den Alben ihres Vaters. Kristina liebte den Ausdruck in den Augen der alten Frau, wenn sie das Foto in ihren arthritischen Fingern hielt und es verzückt, manchmal auch traurig, betrachtete. An guten Tagen war sie sogar in der Lage, von den Ereignissen zu erzählen, die zu dem Foto geführt hatten.
Abends las sie Leila Geschichten vor, lag dann wach und dachte an Marcus. Die Erinnerung an ihn war so klar, als wäre er erst wenige Wochen zuvor gestorben. Sie trug den Ring mit dem herzförmigen Rubin und hatte die Angewohnheit entwickelt, den Stein zu reiben, wenn sie nachdachte oder in Erinnerungen versunken war.
Als Leila acht Jahre alt war, starb ihre Großmutter und mit ihr das letzte Stück Familie. Kristina hatte immer geglaubt, dass sie ihr nicht so nahe gestanden hatte, und war überrascht von der Intensität ihrer Trauer. Zwar hatte sie nie aufgehört, an Marcus zu denken, doch die Jahre hatten den Schmerz erträglich werden lassen. Ihre Seele war vernarbt, wie eine alte Brandwunde, die zwar verheilt war, aber immer empfindlich bleiben würde. Der Tod ihrer Oma riss das Narbengewebe wieder auf und alter Schmerz mischte sich mit frischen Verletzungen. Sie fühlte sich einsam und entwurzelt und füllte ihre Tage mit hektischer Betriebsamkeit, nur um abends todmüde ins Bett zu fallen. So vermied sie, über ihr Leben, das Alleinsein und über Marcus nachzudenken.
Ihre Oma vererbte ihr ein kleines Haus am Stadtrand, was für Kristina eine große finanzielle Erleichterung war. Gleichzeitig fühlte sie sich gefangen in dieser Welt voll kleinbürgerlicher Menschen und sauberer Einfamilienhäuschen.
Mittlerweile malte sie nur noch selten. Zwischen ihren Pflichten als Mutter, dem Haushalt und ihrem Teilzeitjob blieb nur wenig Raum für Kreativität. Wenn sie ihre alten Bilder betrachtete, versuchte sie sich vorzustellen, wie ihr Leben sein könnte, wenn sie Kunst studiert und Marcus nie getroffen hätte. Die Vorstellung war so deprimierend und schmerzhaft, dass sie es nie lange ertrug, darüber nachzudenken.
Leila weinte nie und wurde nie krank. Andere Kinder bekamen alle möglichen Kinderkrankheiten wie Windpocken, Scharlach oder Mumps. Leila bekam nicht einmal einen Schnupfen. Und sie war sportlich, wenn auch nicht besonders ehrgeizig. Sie rannte schneller als alle anderen, sprang weiter und höher und stürzte sich unerschrocken auf jeden Ball. Immer wieder hatte der Sportlehrer ihr dazu geraten, sich zu spezialisieren und ihr eine glänzende Karriere als Profisportlerin prophezeit. Doch weder hatte Leila Interesse an Sport noch an einer Karriere in diesem Bereich.
Kurz nach ihrem vierzehnten Geburtstag wurde sie launisch und verschlossen und manchmal regelrecht angriffslustig.
Die Pubertät, dachte Kristina betrübt und bereitete sich darauf vor, ihre Tochter, zu der sie über die Jahre hinweg eine besonders enge Verbindung aufgebaut hatte, loszulassen.
Zudem begann Leila, schlafzuwandeln. Anfänglich nur ab und zu, doch es kam immer häufiger vor, dass sie irgendwo im Haus erwachte und nicht wusste, wie sie da hingekommen war.
In den folgenden zwei Jahren spitzte sich die Situation weiter zu. Leila bekam schlimme Albträume. In der Nacht nach ihrem sechzehnten Geburtstag hörte Kristina Schreie aus dem Zimmer ihrer Tochter. Schnell sprang sie aus dem Bett und lief zu ihr. „Leila? Was ist los?“
„Mama“, weinte Leila. „Du darfst nicht sterben.“
Kristina hastete zum Bett ihrer Tochter und nahm sie in den Arm. „Es war nur ein Traum, Schatz. Ich bin am Leben und habe auch vor, es zu bleiben. Was hast du denn geträumt?“
„Du hast geblutet und ich habe versucht, die Blutung zu stoppen“, schluchzte sie. „Aber du hast immer weiter geblutet … und … überall war Blut … und … plötzlich habe ich so einen komischen Druck verspürt und anstatt dir zu helfen, habe ich dich … abgeleckt, wie ein Hund.“
Kristina schüttelte sich. „Das ist ja widerlich. Kein Wunder, dass du dich erschreckt hast. Aber es war nur ein Traum, Schatz. Beruhige dich.“ Sie wiegte ihre Tochter in den Armen, bis sie wieder
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