Das Blut der Unsterblichen
so tun als hätte sie nichts gehört oder sie zur Rede stellen? In rechter Stimmung für eine Auseinandersetzung war sie. Entschlossen ging sie auf ihre Freundinnen zu. Thea entdeckte sie als Erste.
„Oh, hallo Leila. Hey, wie geht’s?“, rief sie übertrieben freundlich. Die anderen Beiden verstummten abrupt und drehten sich verkrampft lächelnd zu ihr um. Spätestens jetzt wurde deutlich, dass sie über sie geredet hatten.
„Danke gut“, antwortete Leila spitz. „Über was habt ihr gesprochen?“
Es entstand eine verlegene Stille. Die Mädchen warfen einander nervöse Blicke zu.
„Ach, über die Geburtstagsparty heute Abend bei Silvi. Hast du vielleicht auch Lust zu kommen?“, fragte Thea schließlich und erntete dafür vorwurfsvolle Seitenblicke.
Leilas Angriffswille schwand. Die Anderen wollten sie nicht dabei haben. Wenn sie es nicht schaffte, ihre Wut zu überspielen, würde sie früher oder später zu einer Außenseiterin werden. Die Probleme, die sie mit sich hatte, waren schon genug, auch ohne die Verachtung Gleichaltriger. Sie versuchte, Begeisterung zu heucheln „Super, da komme ich gerne. Wer kann schon einer Party bei Silvi widerstehen?“, sagte sie und hoffte inständig, dass ihr Lachen nicht genauso gekünstelt klang wie Theas zuvor. „Außerdem habe ich schon lange nicht mehr gefeiert, es wird mal wieder höchste Zeit, oder?“
Die Freundinnen lachten erleichtert und die Spannung war mit einem Schlag verschwunden. Thea hakte sich mit einem „aber klar“ bei ihr unter.
„Endlich kommt mal wieder was Vernünftiges aus deinem Mund“, brummte die kleine, rothaarige Nadine und hakte sich ebenfalls bei Leila ein. Leila warf ihr einen giftigen Blick zu, verkniff sich jedoch eine Erwiderung.
Der restliche Tag verging relativ ereignislos. Leila hatte ihre innere Unruhe weitestgehend im Griff, nur ihr Fuß wippte unter dem Pult auf und ab. Thea, die im Unterricht neben ihr saß, sah kurz auf den Fuß und warf ihr einen warnenden Blick zu.
„Warum bist du schon wieder so nervös?“, wisperte sie.
Leila zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Hör auf damit, bevor du wieder einen Klassenbucheintrag bekommst.“
Als Leila am Nachmittag nach Hause kam, war ihre Mutter damit beschäftigt, die Wäsche zu bügeln. Gewöhnlich war sie währenddessen schlecht gelaunt - Wäsche bügeln gehörte nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Auch Leila hasste die stupide Hausarbeit und so beschloss sie, sich in ihr Zimmer zu verkrümeln, damit ihre Mutter sie nicht zum Helfen aufforderte.
Wie üblich erledigte sie zuerst die Hausaufgaben und durchsuchte anschließend ihren Schrank nach einem passenden Outfit für den Abend, was gar nicht so einfach war. Ihr Budget für Kleidung war knapp bemessen. Außerdem zählte Klamotten kaufen nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, weswegen sich der Inhalt ihres Kleiderschranks auf ein paar Jeanshosen, diverse Shirts, die sie zum Teil auf Flohmärkten erstanden hatte, und zwei ausgewaschene Jogginghosen, beschränkte. Noch immer hatte sie keine Lust, auf Silvias Party zu gehen, doch sie konnte es sich definitiv nicht leisten, sich noch weiter abzusondern. Missmutig trottete sie zum Dachfenster und schaute hinaus. Wenigsten war jetzt Wochenende.
Ein paar Spaziergänger liefen vorbei. Leila konzentrierte sich auf sie und tatsächlich war sie auch diesmal in der Lage, Teile ihres Gesprächs zu verstehen. Nachdem die Spaziergänger vorbeigelaufen waren, versuchte sie es mit ihrer Mutter, die sich immerhin zwei Stockwerke unter ihr befand. Sie hatte den Fernseher laufen. Ein Nachrichtensprecher berichtete über eine durch Hochwasser verursachte Schlammlawine. Das Sprühwasser des Bügeleisens zischte und das Bügelbrett quietschte ein wenig, während ihre Mutter die Wäsche glättete.
Offensichtlich war ihr Gehör wirklich besonders gut. Seltsam. Woher kam das so plötzlich? War sie vielleicht doch ein Freak? Verlor sie den Verstand? Hatte sie gar einen Hirntumor?
Unwillkürlich fuhr sie sich mit den Händen über den Kopf, als könne sie den Tumor von außen ertasten. Dabei kam ihr ein neuer Gedanke. War ihr außergewöhnliches Gehör vielleicht einfach eine Laune der Natur, eine Gabe? So wie manche Menschen ein angeborenes Talent für Musik oder Malerei hatten oder mit außergewöhnlicher Intelligenz gesegnet waren, hatte sie eben die Gabe des Hörens. Das musste es sein! Alles andere wäre absurd.
Durch diesen Gedanken
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